Geschichte der Wallfahrt
Einsiedeln ist kein Wallfahrtsort, der auf eine Marienerscheinung zurückgeht. Einsiedeln ist ein Wallfahrtsort der Tradition – einer sehr langen Tradition mit starker klösterlicher Prägung. In Einsiedeln gehen Kloster und Wallfahrt eine einmalige Symbiose ein und machen aus dem Heiligtum der Gottesmutter Maria im Herzen der Schweiz einen „benediktinischen Wallfahrtsort“.
Die Einsiedler Wallfahrtsgeschichte beginnt mit der einfachen Zelle des heiligen Meinrad (+861) und machte aus Einsiedeln im Laufe der Jahrhunderte den bedeutendsten Marienwallfahrtsort der Schweiz. Die Wallfahrt im klassischen Sinn reicht in Einsiedeln sicher ins 12. Jahrhundert zurück. Erste schriftliche Zeugnisse aus dem frühen 14. Jahrhundert sprechen ganz selbstverständlich von Wallfahrten nach Einsiedeln und auch davon, dass sie recht bedeutend gewesen sind.
Besucher beim Einsiedler
Schon zu Lebzeiten des heiligen Meinrad (um 800-861) kommen Menschen in den “Finstern Wald”. Sie suchen den Einsiedler auf und erhalten neben einem guten Wort oft auch materielle Hilfe. So erzählt es die Legende.
Meinrad wird nicht vergessen
Nach Meinrads Tod am 21. Januar 861 wird es für einige Jahre wieder still im „Finstern Wald“, bis die Waldeinsamkeit ab 906 vom seligen Benno von Strassburg und weiteren Eremiten mit Leben und Gebet erfüllt wird. Sie siedeln um die Kapelle am Ort der Meinradszelle und halten die Erinnerung an den ersten Bewohner des „Finstern Waldes“ wach.
Ein Kloster entsteht
Das Jahr 934 gilt als Gründungsjahr des Klosters Einsiedeln. Die Einsiedlergemeinschaft um den seligen Benno wird vom seligen Eberhard (+958) zu einer Benediktinergemeinschaft geformt. Die erste Klosterkirche wird zu Ehren der Gottesmutter Maria und dem heiligen Mauritius geweiht.
Die alte Einsiedler-Kapelle bleibt auch nach dem Bau der ersten Klosterkirche stehen und wird zum Ort der Erinnerung an die Ursprünge. Sie ist Christus, dem Erlöser (lat. Salvator), geweiht und birgt eine kostbare Reliquie des Heiligen Kreuzes.
Doch im Laufe der Zeit wird aus der “Salvator-Kapelle” eine Marienkapelle. Aus der Christus geweihten Kapelle wird eine von Christus geweihte (Marien-) Kapelle. Die Legende der Engelweihe versucht diese Tatsache anschaulich zu erklären und die Wirkung bleibt nicht aus: Die Heilige Kapelle von Einsiedeln zieht viele Pilgerinnen und Pilger aus ganz Europa an.
Die wundersame Weihe der Heiligen Kapelle
Im Jahr 948 bitten die Mönche des jungen Klosters Bischof Konrad von Konstanz, ihre neue Klosterkirche und die Kapelle des hl. Meinrad feierlich zu weihen. Das soll am Fest Kreuzerhöhung, dem 14. September geschehen.
An dieser Stelle setzt nun die Legende ein: In der Nacht vor der Weihe begibt sich Bischof Konrad in die kleine Kapelle, um dort zu beten. Da sieht er in einer Vision, wie Jesus Christus vom Himmel herabsteigt. Er wird begleitet von Scharen von Engeln sowie vielen Heiligen. Die Jungfrau Maria erscheint über dem Altar wie in Licht gehüllt. In einem feierlichen Gottesdienst weiht Jesus Christus die Kapelle zu Ehren seiner Mutter Maria. Als Bischof Konrad am anderen Morgen die Kapelle feierlich einweihen sollte, zögert er. Von den Mönchen zur Weihe gedrängt, gibt er schliesslich nach und will zur feierlichen Weihe schreiten. Schon zieht er die Gewänder für den Gottesdienst an, da erscheint ein Engel und sagt: „Bruder, halte ein! Die Kapelle ist bereits von Gott geweiht.“ Und die Weihe der Kapelle wird nicht vollzogen. Soweit die Legende, die in der barocken Klosterkirche im Deckengewölbe über der Gnadenkapelle dargestellt ist.
Engelweihe als Marketing
Die Engelweih-Legende ist im 12. Jahrhundert erstmals in den Quellen fassbar. Die Einsiedler Mönche setzen viel daran, diese Legende unter das Volk zu bringen, und verbreiten die Geschichte des ausführlich beschriebenen heiligen Geschehens in Bild und Text. Mehrmals wird vom Papst eine Bestätigung des wundersamen Geschehens erwirkt und die Wallfahrt zur Heiligen Kapelle mit zahlreichen Ablässen ausgestattet.
In Scharen strömten die Leute aus halb Europa vor allem zum Engelweihfest nach Einsiedeln, um hier in Form von Ablässen „Gnade über Gnade“ zu empfangen.
Pilgern im Mittelalter
Das Mittelalter ist die grosse Zeit des Pilgerwesens. Es existieren von der Obrigkeit verordnete Wallfahrten aus den Kantonen der Innerschweiz, Pilgerzüge aus Städten (Zürich, Basel…) und natürlich treffen auch viele Einzelpilger in Einsiedeln ein. Teilweise ziehen sie weiter nach Rom oder Santiago de Compostela. Zehntausende Pilger kommen zum Fest der Engelweihe im September nach Einsiedeln.
Es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass das Wallfahrtswesen in jener Zeit durch zahlreiche Missbräuche (Ablass- und Reliquienhandel, Schwindel, moralisches Fehlverhalten) in Schieflage geriet. Dennoch war das Pilgern – auch nach Einsiedeln – oft leibhaftiger Ausdruck einer echten Frömmigkeit. Die kleiner gewordene Mönchsgemeinschaft wird von zahlreichen Kaplänen in der Pilgerseelsorge unterstützt.
Eine spätgotische Statue wird zum Gnadenbild
Eine spätgotische Marienstatue aus Süddeutschland findet 1466 ihren Platz in der Gnadenkapelle, nachdem die Vorgängerstatue beim Brand 1464 verlorengegangen ist. Damals konnte man eine Statue ohne weiteres ersetzen. Doch nun setzt eine neue Entwicklung ein: Die spätgotische Statue wird im Laufe der Zeit zum Gnadenbild und zum Symbol der Wallfahrt nach Einsiedeln. Die wertvolle Bekleidung und der Schmuck der Statue legen davon bis heute Zeugnis ab.
Maria Einsiedeln
Nach der Reformation und dann vor allem in der Barockzeit wird Einsiedeln mehr und mehr zu einem marianisch geprägten Wallfahrtsort. Teile der spätgotischen Statue werden mit der Zeit immer dunkler. Grund dafür ist der Rauch der Kerzen, die in der Gnadenkapelle brennen. Als Schwarze Madonna zieht Unsere Lieben Frau von Einsiedeln noch heute viele Pilgerinnen und Pilger an.
Nach der grossen Krise vor und während der Reformation festigt sich die Mönchsgemeinschaft wieder und prägt die Einsiedler Wallfahrtskultur wesentlich mit. Die Barockzeit kennt an den Feiertagen fulminante Festgottesdienste. Für die Wallfahrt werden alle Register gezogen.
Ende einer Epoche
Französische Soldaten fallen im Mai 1798 in Einsiedeln ein und bereiten der Fürstabtei ein Ende. Abt und Mönche fliehen ins Ausland. Das Gnadenbild wird versteckt und auf einer abenteuerlichen Flucht bis ans Mittelmeer geflüchtet. Die Soldaten zerstören die Gnadenkapelle, um der Wallfahrt den Garaus zu machen.
Die Gnadenkapelle wird wieder aufgebaut
Nach der Rückkehr der Mönche aus dem Exil geht es um den Wiederaufbau des ausgeplünderten Klosters und die Stärkung des Gemeinschaftslebens. Erst 1817 wird die Gnadenkapelle wiederaufgebaut –in klassizistischen Formen, aber so weit wie möglich mit dem Abbruchmaterial der alten Gnadenkapelle. Die neue Kapelle erreicht nicht mehr die Bedeutung ihrer legendenumrankten Vorgängerin – das Gnadenbild der Muttergottes von Einsiedeln wird wichtiger. Trotzdem feiert man nach dem Wiederaufbau alljährlich das Weihefest der Gnadenkapelle am 14. September. Die Feier der „Engelweihe“ ist bis heute eine lebendige Tradition.
Eine grössere Mobilität
Durch den vom Kloster mitfinanzierten Anschluss Einsiedelns ans Bahnnetz verändert sich die Wallfahrt. Zahlreiche Pilgerzüge treffen im Wallfahrtsdorf ein. Es beginnt die Zeit der grossen Massenwallfahrten, die im 20. Jahrhundert durch die Reisebusse nochmals eine neuen Aufschwung erlebt. Die Spendung des Beichtsakraments erfordert von den Priestern der Mönchsgemeinschaft einen grossen zeitlichen und personellen Einsatz.
Ein neuer Heiliger
Im Kloster stirbt im Alter von 77 Jahren Bruder Meinrad Eugster. Ab den 40er Jahren wird sein Grab beim “Patroziniumsaltar” in der Nähe der Gnadenkapelle zu einem neuen Wallfahrtsziel. Bereits 1960 anerkennt Papst Johannes XXIII. den heroischen Tugendgrad des Ehrwürdigen Dieners Gottes. Dieser einfache Bruder wird von vielen Menschen als Fürsprecher verehrt. Das für die Seligsprechung notwendige Wunder bleibt vorerst noch aus.
Millenarium
Wenige Jahre vor dem zweiten Weltkrieg wird in Einsiedeln ein besonderes Jubiläumsjahr gefeiert: 1000 Jahre Kloster Einsiedeln. Festliche Gottesdienste ziehen zigtausende Pilgerinnen und Pilger an. Höhepunkt der Feierlichkeiten ist die Krönung des Gnadenbildes durch den päpstlichen Legaten Kardinal Ildefons Schuster OSB aus Mailand.
Individualisierung in der Wallfahrt
Die grossen Gruppenwallfahrten verlieren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Die Pilgerinnen und Pilger kommen immer öfters alleine oder im Familienkreis nach Einsiedeln. Eine Übernachtung ist aufgrund des privaten Autos nicht mehr notwendig – in Einsiedeln beginnt das „Hotelsterben“. Kultur- und kunstinteressierte Touristen sowie Erholungssuchende finden den Weg ins Klosterdorf.
Papst Johannes Paul II. in Einsiedeln
Im Sommer 1984 dürfen Kloster und Wallfahrtsort Einsiedeln einen besonderen Gast begrüssen: Papst Johannes Paul II. kommt im Rahmen seiner Schweizer Pastoralreise nach Einsiedeln, wo er zweimal im Kloster nächtigt. Am 15. Juni 1984 weiht er den neuen Hauptaltar der Klosterkirche.
Eine Wallfahrt mit Zukunft
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Durch die Jahrhunderte erlebt die Wallfahrt immer wieder Zeiten des Wandels und der Veränderung. Wir Mönche im Kloster Einsiedeln sind Teil dieser Entwicklung und bemühen uns auch in Zukunft einen Ort zu gestalten, wo die Menschen Gott und einander begegnen können. Als „benediktinischer Wallfahrtsort“ versuchen wir das Charisma des monastischen Lebens nach der Regel des heiligen Benedikt mit der engagierten Seelsorge an den Pilgerinnen und Pilgern zu verbinden: ein spannender Spagat, der uns und allen, die Einsiedeln besuchen, zum Segen werden soll.