Pater Remigius Lacher
«Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir den Endbahnhof. Wir bitten alle Reisenden auszusteigen und verabschieden uns von Ihnen.»
Wer öfters mit dem Zug unterwegs ist, kennt diese Ansage. In der letzten Januar-Woche hiess es auch für unseren P. Remigius: «Endbahnhof». Seine Lebensreise in dieser Welt ging zu Ende. Er ist aus seinem «Lebenszug» ausgestiegen. Zuletzt wurde er vom Pflegeteam der Alpoase in der Langrüti liebevoll betreut, wofür wir sehr dankbar sind. Eine besondere Freude war es auch, dass das Requiem für P. Remigius vom Stiftschor feierlich umrahmt wurde. Rund 70 Jahre lang hat P. Remigius im klösterlichen Männerchor und dann auch im Stiftschor mit seiner Tenorstimme mitgesungen. Das aber gehört bereits zu den späteren Stationen seines «Lebenszuges». Beginnen wir mit der ersten.
«Erster Halt: Spital Glarus». Das war am 17. Juli 1930, einem Donnerstag. Da wurde dem Ehepaar Josefina und Meinrad Lacher-Schwitter ein Knabe geschenkt, bei dem man allerdings nicht so sicher war, ob er wirklich in den «Lebenszug» einsteigen wollte. Er war sehr schwächlich, so dass seine erste Station auch gleich seine letzte hätte sein können. Deshalb liess man ihn noch im Spital eine Woche nach seiner Geburt taufen und legte so jenes Leben in ihn hinein, das keinen Tod kennt. Getauft wurde er auf den Namen Rembert. Grund für diese Namenswahl war ein damals in Näfels lebender Kapuziner, der sich sehr um die Kranken annahm und bei den Leuten sehr beliebt war. Rembert war das dritte von insgesamt sechs Kindern, fünf Buben und ein Mädchen. Der jüngste allerdings, Bruno, starb bereits fünf Wochen nach seiner Geburt.
«Nächster Halt: Schule.» Meinrad Lacher, Remberts Vater, stammte aus der Eintracht in Egg bei Einsiedeln, von wo er als junger Mann zunächst nach Näfels, wo er seine Frau kennenlernte und dann mit der jungen Familie nach Glarus zog. Dort besuchte Rembert seit Frühling 1937 die Primarschule. Mit ungefähr sechs Jahren kam er das erste Mal nach Einsiedeln. Aber ihm «wollte die grosse Kirche, in der Leute wohnen, nicht recht in den Kragen passen», wie er als junger Mann rückblickend schrieb. Viel ansprechender war da die «Festausgabe von Maria-Einsiedeln» zur Millenniumsfeier aus dem Jahr 1934 mit ihren «etwa hundert Photoaufnahmen», die Rembert zu Hause in einer Schublade fand. Diese beeindruckte den Jungen offenbar so sehr, dass er während der zweijährigen Schulzeit bei den Kapuzinern in Näfels nie auf den Gedanken kam, selber Kapuziner zu werden. «Mein Ziel war nur noch eins: Einsiedler Pater», hielt er fest – und man möchte hinzufügen: «Einsiedler Pater mit Fotoapparat», der in seinen Ferien ähnlich schöne und faszinierende Bilder zu machen strebte, wie er sie in der besagten Festschrift gesehen hatte. So kam er also 1946 an die Stiftsschule hier in Einsiedeln. Die grosse Masse an Studenten, die er hier antraf, bereitete ihm zunächst etwas Mühe. Aber mit der Zeit begann er die Schönheiten zu entdecken, zu denen er den Gesang, das feierliche Chorgebet, die Gottesdienste sowie die Vielseitigkeit des Lebens und Wirkens in diesem Kloster zählte. Tatsächlich trat er dann nach der Matura ins Kloster ein.
«Nächster Halt: Fraterstock.» 1952 wurde Rembert eingekleidet. Im Fraterstock, wo die Novizen zusammen mit jenen wohnen, die ihre Klostergelübde erst für eine begrenzte Zeit abgelegt haben, lernte Rembert das klösterliche Leben kennen und konnte sich an der klostereigenen Lehranstalt theologische Grundlagenkenntnisse erwerben. Nach dem Noviziat versprach auch er 1953 für drei Jahre Beständigkeit, klösterlichen Lebenswandel und Gehorsam und nahm dabei den Namen Remigius an. Drei Jahre später, am 8. September 1956, bestätigte er sein Gelübde in der Feierlichen Profess auf Lebenszeit. Am 8. Juni des darauffolgenden Jahres wurde er zusammen mit seinen Mitbrüdern Angelo Zanini, Damian Rutishauser und Thomas Locher durch Handauflegung von Bischof Nestor Adam zum Priester geweiht. Seine erste heilige Messe hier in der Klosterkirche, die Primiz, fiel am 30. Juni passend mit der Glarner Landeswallfahrt nach Einsiedeln zusammen.
«Nächster Halt: Pfarrei.» Per 1. September 1958 wurde P. Remigius Vikar in Einsiedeln. Nachdem er aus dem Fraterstock ausgezogen war, bewohnte er fortan ein Zimmer in der Klausur des Klosters. Auch als Vikar. Erst 1975 sollte er ein Zimmer im neu ausgebauten Pfarramt bekommen. 1982 ernannte ihn der Bischof von Chur, Johannes Vonderach, zum Pfarrvikar in Gross als Ergänzung zu seiner Seelsorgetätigkeit in Einsiedeln. In seine Vikarszeit fielen der Bau des neuen Pfarrhauses (1984), des neuen Schulhauses (1991) sowie die Renovation der Kirche (1995 bis 1997). Aber noch etwas ganz anderes fiel in die Zeit der Pfarrseelsorge von P. Remigius, nämlich die Geburt von Pfiff, Brosi und Snufi. Das sind in Einsiedeln offensichtlich ganz berühmte Gestalten. Ihre Abenteuer erfand und erzählte P. Remigius im Religionsunterricht jeweils am Ende des Schuljahres. Er durfte dabei auf gespannt lauschende Kinder zählen, von denen heute wohl die einen oder anderen als Erwachsene mit uns mitbeten.
«Nächster Halt: Kloster». 2002 nahm P. Remigius nach 20 bzw. 44 Jahren Abschied von Gross und von der Pfarrei Einsiedeln. Ein Jahr später konnte er dann in der Klausur des Klosters ein neu eingerichtetes Zimmer beziehen, aus welchem sehr oft dezent und leise klassische Musik zu hören war. Zurück im Kloster, dem er nie wirklich fern war, unterstützte er die Wallfahrt und zeigte mitunter unzähligen Gruppen die Tonbildschau des Klosters. Darüber hinaus nahm er ganz selbstverständlich priesterliche Dienste wahr. Ganz selbstverständlich trug er auch das tägliche Chorgebet der Mönche mit und zeigte hier vorbildliche Treue, gehört dies doch zu den wichtigsten Pflichten eines Benediktiners. Vielleicht wurde ihm 2006 auch deshalb eine Aufgabe anvertraut, die nach der Regel des heiligen Benedikt in einem Kloster ebenfalls zu den höchsten, wichtigsten und edelsten Aufgaben gehört: Den Dienst am Tisch. P. Remigius wurde die Betreuung des Refektoriums, des klösterlichen Speisesaales, anvertraut. Wenn er mit dem Auftischen für seine Mitbrüder beschäftigt war, blitzte auch immer wieder sein Frohmut, sein Schalk und sein Humor auf: Fast jeden seiner Mitbrüder wusste er auf humorvolle Weise zu imitieren. Lustig war das nicht zuletzt dann, wenn man als Zuhörer von P. Remigius nicht wahrgenommen wurde. In den kommenden Wochen wird einer unserer Mitbrüder das Zimmer beziehen, in welchem P. Remigius bis zu seinem Umzug auf die Pflegestation gewohnt hat. Vielleicht ist es eine besondere Fügung, dass dieser Mitbruder auch sein Nachfolger als Verantwortlicher für das Refektorium ist!?
«Nächster Halt: Pflegestation.» Die sich immer stärker bemerkbar machende Demenzerkrankung machte einen Umzug auf die Pflegestation des Klosters notwendig. Wie gerne hätten wir unseren Mitbruder bis zu seinem Tod hier im Kloster behalten, wofür man noch zu Beginn des Jahres 2020 bestens vorbereitet war. Eine Reihe von Todesfällen in der zweiten Jahreshälfte verunmöglichte es jedoch, den Betrieb der Pflegstation aufrecht zu erhalten, und ein Wechsel ins Pflegeheim wurde unumgänglich.
«Nächster Halt: Endbahnhof. Der Reisende wurde gebeten auszusteigen, und wir verabschieden uns nun von ihm.» P. Remigius war ein leidenschaftlicher «Eisenbähnler». Er hatte eine recht grosse Modelleisenbahn – sie war 275 auf 140 Zentimeter gross –, die er unzähligen Leuten zeigte. Sie war allerdings zu gross, um sie nach seiner Pfarreitätigkeit mit auf sein Zimmer zu nehmen. Er verschenkte sie einem seiner Neffen, dessen Pate er war. Was er allerdings vom Pfarramt mitnahm war eine Foto, die P. Remigius im Führerstand einer Lokomotive zeigt.
Am 24. Januar dieses Jahres, morgens um ca. 1:35 Uhr hat der «Lebenszug» von P. Remigius den Endbahnhof erreicht. Wir hoffen und wir beten, dass dort ein Empfangskomitee bereitsteht und ihn willkommen heisst: Darunter sicher die Mutter Gottes und wohl auch der heilige Meinrad, schliesslich wurde P. Remigius am Festtag des heiligen Einsiedlers mit den Sakramenten der Krankensalbung und der heiligen Eucharistie gestärkt. Zudem erreichte sein «Lebenszug» die Endstation mitten in der Meinradsoktav. Die Heiligen mögen ihn nun hinführen zum «Lokomotivführer» seines Lebenszuges: Jesus Christus. Diese Begegnung erfülle den Verstorbenen mit Leben, für das es keinen Endbahnhof mehr gibt.
28. Januar 2023
P. Daniel Emmenegger