Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Das Lied mit dem Titel „Anfang und Ende, Eingang und Ausgang, Schatten und Licht: alles ist Gnade, fürchte dich nicht!“, ist wohl einigen bekannt. Die Worte dieses Liedes verbinde ich mit der Karwoche. Betrachten wir die Ereignisse von Palmsonntag bis Ostern, so wirkt das Geschehen wie ein Durchzug. Wir erinnern uns an das Volk Israel, beschrieben in den Büchern des Moses, das aus dem Sklavenhaus Ägypten auszog, durch das Schilfmeer zog und nach vielen Wanderjahren in Kanaan ins Gelobte Land einzog. Dazwischen die Erfahrungen vieler Lebenshöhen und Lebenstiefen. Nun wieder ein Durchzug, doch dieser viel konzentrierter und verglichen mit dem Durchzug des Volkes Israel klein und unbedeutend. Auf den ersten Blick. Aber es ist DER Durchzug, der finale, der endgültige. Nicht ein ganzes Volk zieht da hindurch, sondern einer allein, jedoch stellvertretend für die Menschheit.
Jesus zieht in die Heilige Stadt ein, zieht durch die jubelnde Menge, durch das Palmenmeer hindurch, strandet kurzzeitig an den Klippen der Sadduzäer und Pharisäer, gerät in den Sog der Römer, in die Stromschnellen der verurteilenden Masse. Doch nichts und niemand hält ihn wirklich auf. Die Wogen seines Auftretens reissen vieles auf und viele mit. Jesus selbst lässt sich von den Wellen seiner Widersacher ans Kreuz treiben. Er lässt dies bewusst geschehen. Er weiss sich eins mit seinem himmlischen Vater: „Auf Gott vertraue ich, ich fürchte mich nicht, was können Menschen mir antun?“ (Ps 56,12).
Es ist nicht der Exitus des Volkes Israel von einst. Es ist der Exitus Jesu Christi, ein Wendepunkt schlechthin, der nicht bloss eine zeitweilige Freiheit erwirkt, die zudem anfechtbar und verletzbar bleibt. Es ist die Befreiung aus Sünde und Tod. Damit ist etwas Ganzheitliches und Vollumfängliches gemeint, etwas Endgültiges. Kurz und schlicht zusammengefasst: Unser persönliches Leben, unsere individuelle, familiäre und gesellschaftliche Geschichte, ist ganz und vollumfänglich hineingenommen in das Geschehen dieser Heilige Woche: Wir ziehen ein, ziehen hindurch, ziehen aus; himmelhochjauchzende Freude, tiefabgründige Traurigkeit, verwundete Liebe, enttäuschtes Vertrauen, existentielle Erschütterung, Angst, Ohnmacht und Einsamkeit, doch auch Stärkung und Trost durch das Erfahren wahrer Freundschaft und selbstloser Liebe inmitten von Bedrängnis und Not, in und vor der Stadtmauer.
Schliesslich jedoch die Erkenntnis, dass es am äussersten Rand unseres Lebens, bei der Schädelstätte angekommen, nur eine letzte tragfähige Kraft gibt, die befreiend und erlösend ist, die dem Tod den Stachel nimmt: die Liebe des Dreifaltig-Einen, des EWIGEN. Von IHM hat Jesus, der Christus, Kunde gebracht (vgl. Joh 1,18). Endgültig!
Zum heutigen Palmsonntag und zum Auftakt der Karwoche passen auch die Worte eines adventlichen Liedes aus dem 17. Jahrhundert sehr gut: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit (…), es kommt der Herr (…), der Heiland aller Welt (…), der Heil und Leben mit sich bringt (…)“ (vgl. KG 298).
Die kommenden Tage werden diese Worte vorerst in Frage stellen. Doch wie es so oft im Leben ist: der Schein trügt, das Vordergründige zeigt nicht die letzte Wahrheit, es kommt noch ganz anders.
Denn da ist einer, der für uns, für unser Leben mit unserer Geschichte, beim himmlischen Vater einsteht mit seinem eigenen Leben, durch seine Ganzhingabe. Sagt doch dieser eine, Jesus Christus selbst: „Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen“ (Joh 12, 32).
„Anfang und Ende, Eingang und Ausgang, Schatten und Licht: alles ist Gnade, fürchte dich nicht!“