Liebe Gottesdienstgemeinde!
Er ist – irdisch gesprochen – auf dem Höhepunkt seiner Karriere, obwohl er erst seit 3 Jahren predigend und Wunder wirkend durch das Land gezogen ist. Erst kürzlich hat er in Bethanien Lazarus von den Toten auferweckt, Lazarus, der schon 4 Tage im Grab gelegen hatte. Und heute Vormittag ist er auf einem jungen Esel mit seinen Jüngern und Jüngerinnen in Jerusalem eingezogen und von der jubelnden Menge wie ein Superstar empfangen worden. Seine Gegner sind sprachlos. „Die ganze Welt läuft ihm nach, gegen diesen Jesus richten wir nichts aus – ihn umzubringen, können wir vergessen“ – sagen sie zueinander. Lesen’s Sie’s nach: Johannes 12,19. Unser heutiges Evangelium schliesst mit 12,20 unmittelbar im nächsten Vers daran an. Sogar von Griechenland kommen Leute, keine Juden, Heiden, aber clevere und wissenshungrige Leute. Sie interessieren sich für diesen Jesus, sie möchten ihn sehen. Aber der Andrang ist so gross, dass sie nicht in seine Nähe gelangen können. So wenden sie sich an einen seiner Jünger mit einem griechischen Namen, an Philippus. Dieser weiss nicht so recht, was er tun soll und sagt es seinem Mitjünger mit ebenfalls griechischem Namen. Er sagt es Andreas. Und beide sagen es Jesus. Ja, Jesus ist wirklich auf dem Höhepunkt seiner Karriere.
Liebe Mitchristen! Bis dahin bin ich ziemlich genau dem Johannesevangelium gefolgt. Aus dem Evangelium erfahren wir nicht, ob die Griechen Jesus wirklich getroffen haben. Kein einziges Wort mehr über sie. Oder ist da gar im Text etwas verloren gegangen? Lassen Sie mich jetzt etwas phantasieren, wie es auch hätte weitergehen können. Ich sehe Jesus am Scheideweg. Nach links geht’s zu weiterem Erfolg, nach rechts ans Kreuz. Philippus und Andreas schaufeln den Weg frei und bringen die Griechen zu Jesus. Die Griechen sind derart fasziniert von Jesus, dass sie ihn bitten, mit ihnen nach Griechenland zu kommen. Jesus bespricht sich mit seinen Jüngern und Jüngerinnen. Er weiss genau, was ihm hier in Jerusalem in den nächsten Tagen blüht, wenn er dableiben würde. Deshalb sagt er zu den Griechen: „Eure Einladung kommt mir gerade recht. So werde ich ganz elegant meine Gegner los.“ Und zu seinen Jüngern und Jüngerinnen sagt er: „Kommt, wir gehen nach Griechenland“. So verlassen sie Jerusalem und kommen nach Athen. Sie sind noch gar nicht lange in der griechischen Hauptstadt, da kommt eine Delegation des römischen Kaisers mit der Einladung an Jesus, nach Rom zu kommen. Natürlich geht er. Nach ganz Griechenland lässt sich auch der Kaiser in Rom und mit ihm sein riesig grosses Weltreich taufen. Seine Jünger und Jüngerinnen setzt er auf der ganzen Welt als Bischöfe und Bischöfinnen ein. Er selber bleibt in Rom und beobachtet von dort aus bis auf den heutigen Tag den Kampf zwischen Gut und Bös. Es braucht keine Kirche – und schon gar nicht einen Vatikan.
Liebe Schwestern und Brüder! Ich stoppe hier meine überbordende Phantasie und kehre zurück zur Realität. Zu einer Realität, die ich nicht verstehe. „Jesus, warum bist Du nicht nach links gegangen? Warum hast Du den Weg über das Kreuz gewählt? Ich weiss, Du hast es Deinen Jüngern und Jüngerinnen dreimal mit den fast gleichen Worten vorausgesagt. Aber sie konnten oder wollten es nicht glauben. Und jetzt, wo Dich Philippus und Andreas wegen den Griechen fragen, jetzt gibst Du ihnen eine ganz befremdende Antwort. „Meine Stunde ist jetzt gekommen“, sagst Du, „am kommenden Donnerstag wird mich einer von Euch verraten, am Freitag schlägt man mich ans Kreuz und legt mich dann in ein Grab. Am Samstag gehe ich zu den Toten. Und am Sonntagmorgen werde ich auferstehen.“ Warum das alles geschehen muss, erklärst Du Deinen Jüngern und Jüngerinnen und auch uns mit einem Gleichnis aus der Natur. „Schaut das Weizenkorn an“, sagst Du, „wenn es nicht stirbt und begraben wird, bleibt es allein, geht zugrunde, bringt keine Frucht. Aber aus dem in die Erde gelegten Weizenkorn wächst im Frühling eine Ähre mit 30-, 50- und 100-facher Frucht. Das gilt auch für Euch: Wer an seinem Leben hängt, wird es verlieren. Wer aber sein Leben für andere hingibt und wie ein Weizenkorn stirbt, wird es bewahren bis ins ewige Leben“.
Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer! Wahrscheinlich bedrückt auch Sie die Frage: „Ja warum soll auch mein Leben diesen schmerzlichen Prozess durchmachen, um zu seiner Fülle zu gelangen? Warum soll auch ich wie ein Weizenkorn sterben?“ Alfred Delp, der Jesuit, den die Nazis umgebracht haben, sagte: „Wir sterben ins Leben hinein“. Das ist genau das, was mit dem Weizenkorn passiert: es stirbt ins Leben hinein. Das soll auch für uns gelten. Warum es so ist, darauf haben wir keine Antwort. Was wir haben, ist allein unseren Glauben an die Auferstehung. Dieser sagt uns, dass nur dann Ostern und Auferstehung und ewiges Leben wird, wenn wir durch Leid und Tod gegangen sind. Kein Ostern ohne Karfreitag.
Zum Schluss. In unserem Kirchengesangbuch haben wir unter der Nummer 390 ein ganz spezielles Lied mit einer unglaublichen Geschichte. Ursprünglich, im 15. Jahrhundert, war es nämlich ein französisches Weihnachtslied „Noël nouvelet“, „Weihnachten ist es wieder“. Im 19. Jahrhundert wurde in England aus dem Weihnachtslied ein Passionslied. 1928 schuf ein Engländer einen neuen Text: „Now the green blade rises“. „Jetzt richtet sich der grüne Halm auf“. Und 1976 schliesslich stiess der ostdeutsche Pastor Jürgen Henkys auf der Suche nach internationalen Kirchenliedern auf dieses englische Lied, schuf die deutsche Übertragung „Korn, das in die Erde“ und machte das Lied zuerst in der DDR, später auch im Westen bekannt. Heute wird es im ganzen deutschsprachigen Raum gesungen. Ich kenne kein passenderes Lied zu unserem heutigen Evangelium. Es hat den Refrain „Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün“. Mit der Liebe ist Gottes Liebe gemeint. Sie ist das eigentliche Motiv des Leidens und Sterbens Jesu. Diese bedingungslose Liebe gilt uns, trotz unserer Schuld, trotz unseres Versagens, trotz unserer Fehler. Diese Liebe wächst selbst aus dem steinigen, mit Gestrüpp und Dornen bewachsenen Boden unserer menschlichen Unzulänglichkeiten heraus. Gottes Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün wie die Hoffnung.
Ich möchte jetzt dieses Lied mit Ihnen singen. Sie dürfen ruhig sitzen bleiben. Falls Sie zu Hause ein Gesangbuch haben, nehmen Sie doch dieses Lied in den kommenden zwei Wochen bis Ostern bei Gelegenheit wieder hervor und denken Sie über den wunderbaren Text nach. Bitte, machen Sie’s. Es lohnt sich.
Sie finden das Lied natürlich auch mit Google im Internet.