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P. Daniel Emmenegger am 30. Sonntag im Jahreskreis 2023

Mir scheint, dass die heutigen Schrifttexte, die uns eben vorgetragen wurden, uns eine tiefe, unauslotbare Wahrheit vor Augen führen wollen. Die Wahrheit, dass der Mensch Gegenstand von Gottes Liebe ist. Sehen Sie: Die Vorschriften zum Schutz der Armen und Schwachen, die wir in der Exodus-Lesung vernommen haben, und die nur ein Teil von noch viel umfangreicheren Rechtsbestimmungen sind; – diese Vorschriften sind gleichsam Wegweiser für den Menschen, damit er im Leben das Leben findet. Leben ist unendlich mehr als blosses Existieren. Auch vollzieht es sich nicht einfach automatisch. Der Mensch muss es wollen; der Mensch muss es wählen. Dabei gibt es die Möglichkeit, dass der Mensch fehlgeht; gerade auch dann, wenn er nicht wählt. Darum stellt Gott Wegweiser an den Wegrand unserer Lebenswege, damit wir die richtige Richtung einschlagen können; die Richtung zum Leben. Denn Gott will, dass der Mensch lebt; der Mensch ist Gegenstand seiner Liebe.

Dieser Wahrheit steht der Mensch nicht souverän gegenüber. Das heisst: Der Mensch kann nicht wählen, ob er Gegenstand von Gottes Liebe sein will oder nicht. Eine solche Wahlmöglichkeit auch nur zu denken muss wohl jeden erschüttern, der im Leben in einem seltenen Augenblick der Gnade vielleicht einmal ein klein wenig erfahren hat, was es heissen könnte, Gegenstand von Gottes Liebe zu sein; der um die tiefe Freude, aber auch um das Erschrecken weiss, die eine solche Erfahrung schenkt. Schaudernd ahnt er, dass der Mensch höchstens leugnen kann, Gegenstand von Gottes Liebe zu sein. Eine Leugnung, die den Menschen mitten im Leben sterben lässt.

Im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe bringt Jesus die verschiedenen Wegweiser am Wegrand unserer Lebenswege auf ihren gemeinsamen Nenner.

Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit unserem ganzen Denken (Mt 22,37) heisst, der Wahrheit gemäss zu leben; und das beginnt beim Hören: Man muss sich sagen lassen, Gegenstand von Gottes Liebe zu sein. In und durch Christus hat Gott es uns in aller Deutlichkeit gesagt. Gott zu lieben heisst dann, dieses Wort annehmen, ihm unseren Glauben schenken und im alltäglichen Vollzug des Lebens das Leben wählen. Nicht, weil das immer leicht wäre, sondern einfach, weil es wahr ist und ich diese Wahrheit glaube.

Den Nächsten zu lieben wie sich selbst (Mt 22,39) heisst, sich aus dem Wort Gottes heraus bewusst machen, dass jeder Mensch Gegenstand von Gottes Liebe ist; dass es keinen Weg zum Leben gibt, der am Menschen neben mir vorbei führt oder gar noch auf seine Kosten geht (wer Witwen und Waisen ausnützt und Wucherzinse fordert (Ex 22.21.24), um zu leben, lebt nicht!). Ich sage bewusst: «Am Menschen neben mir». Nicht nur, weil es auch in der Exodus-Lesung explizit stand; sondern einfach, weil Nächstenliebe nicht Fernstenliebe ist; sie ist konkret, nicht abstrakt. Ihre Höchstform findet sie wohl dort, wo ein Mensch das Leben mehr für den Menschen neben ihm als für sich selber wünscht; der gar so weit geht, sein Leben zu lassen, damit der Mensch neben ihm es findet. Nicht, weil er ihm sympathisch wäre oder er ihn besonders gut mag, sondern einfach, weil es wahr ist und ich diese Wahrheit glaube.

Einer ist diese Wahrheit; Einer ist dieses Leben: Jesus Christus, Gott als Mensch. Er gab sein Leben, damit wir es finden. Er ist der Weg zum Leben. Denn sehen Sie: Angesichts der Forderung der Gottes- und Nächstenliebe müssten wir glatt verzweifeln. Ist es denn nicht so, dass wir im alltäglichen Vollzug des Lebens hier tausendfach versagen? Gott aber sei Dank, der uns dieses Versagen nicht nur nicht anrechnet, sondern in Christus auch vergeben hat!

Das bedeutet nicht, dass damit die Forderung gemildert wird. Vielmehr können wir das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe nochmals in neuem Licht sehen: Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit unserem ganzen Denken (Mt 22,37); also der Wahrheit gemäss zu leben heisst dann auch, sich Gottes Vergebung zusagen zu lassen, sie anzunehmen und gleichsam in den Raum dieser Vergebung (es ist der Raum Jesu Christi) einzutreten. Den Nächsten zu lieben wie sich selbst heisst dann auch, dessen Versagen angesichts der Forderung der Gottes- und Nächstenliebe dort zu vergeben, wo dieses Versagen mich unmittelbar betrifft. Und sie bedeutet, auch die Vergebung meines Nächsten anzunehmen, wo dieser von meinem Versagen unmittelbar betroffen ist. Das setzt natürlich voraus, dass der Mensch neben mir mir vergibt. Um solche Vergebung kann man bitten; und es wäre nicht der geringste Akt der Nächstenliebe.

Es ist klar, dass Vergebung mitunter Zeit braucht. Das darf aber kein Vorwand sein, sich nicht um sie zu bemühen, um sie zu bitten. Denn die Zeit ist begrenzt. Sie ist nicht ewig. Das Leben hingegen schon.

Es sei noch angemerkt: Gerade weil die Forderung der Gottes- und Nächstenliebe bestehen bleibt, bedeutet Vergebung nicht, sich mit dem Versagen des Nächsten und meinem eigenen Versagen zu arrangieren. Es kann Gott nicht lieben, wer sich mit der Sünde arrangiert. Und es ist kein Akt der Nächstenliebe, zuzuschauen, wie der Mensch neben mir fehlgeht.

Wir brauchen aber niemanden zu erlösen. Weder uns noch den Menschen neben mir. Das hat Gott ein für allemal getan, in Christus Jesus. Er sei gelobt in Ewigkeit. Amen.

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