Liebe Brüder und Schwestern!
Ich war ein kleiner Bub. Einmal blieb bei Tisch ein Stück Fleisch übrig, das sowohl mein Bruder als auch ich heiss begehrten. Ich nahm flink Messer und Gabel, um es sehr ungleich zu zerteilen, um dann sofort den grösseren Teil auf meinen Teller zu schieben. Mein Vater durchschaute mich, gebot Einhalt und sagte: «Du darfst zwar teilen, aber dein Bruder darf sein Stück selbst wählen!» Diese Aussicht änderte die Situation grundlegend, und ich gab mir alle Mühe, das Bratenstück exakt zu halbieren.
In der Mitte teilen. Was in einem Fall gut zu sein scheint, erweist ist im andern Fall als problematisch. Bei Wahlen kann es vorkommen, dass etwas mehr als die Hälfte der Wählenden für ein bestimmtes Gesetz ist, etwas weniger als die Hälfte aber dagegen. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft gewinnt stets die Mehrheit, selbst wenn diese hauchdünn ausfällt. Die Verlierer haben das Nachsehen. Besonders wenn immer die Gleichen verlieren, kann das Groll und Spaltung, Rebellion hervorrufen. Papst Franziskus, und viele mit ihm, wünscht sich eine synodale Kirche, eine Kirche des aufeinander Hörens, des sich besser Kennenlernens und Verstehens. Das bedeutet einen positiven Kulturwandel im Umgang miteinander. Schliesslich wird aber doch jemand Entscheidungen fällen müssen, die wiederum von den einen begrüsst und von den andern beklagt werden, zumal die Kirche in ihren Grundfesten nicht einfach ein basisdemokratisch verfasstes Gebilde ist, in dem die numerische Mehrheit den Ausschlag gibt.
Eine hierarchisch verfasste Gesellschaftsordnung von oben nach unten war im sogenannten ancien régime vor der Französischen Revolution unbestritten. Mehrheiten und Minderheiten spielten keine Rolle, es galt, was die gottgegebene Autorität auf dem Fundament einer christlichen Weltordnung anordnete. Das Christkönigsfest, das wir heute begehen, wurde 1925 von Papst Pius XI. eingesetzt, wenige Jahre nach dem Untergang von König- und Kaiserreichen mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Der Papst wollte damit dem sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend breit machenden Laizismus die Stirn bieten, das Königtum Christi propagieren und damit das Christentum als Norm für Staat und Gesellschaft proklamieren. In Südamerika und in Spanien gab es Versuche, Nationen mit Gewalt auf Linie zu bringen. Der Preis dafür waren Streit und Bürgerkrieg, Leid und Blut, wie übrigens auch in der Zeit der beginnenden Säkularisierung, der Französischen Revolution, wo die Fallbeile, die Guillotinen heissgelaufen sind.
Ein Blick in die Welt zeigt, dass jede Staatsform Schwachstellen aufweist, sei sie nun, gemessen an unseren Wertvorstellungen, grundsätzlich besser oder schlechter als eine andere. Eine dieser Schwachstellen, wohl die wichtigste, ist der Mensch selbst – der Mensch mit seiner Gier und seinem Machstreben, das rücksichtslos und kalt werden lässt und zu einer nicht enden wollenden Spirale der Gewalt führen kann.
Gibt es eine Alternative dazu? Werfen wir einen Blick auf die sogenannte Präfation des heutigen Festes. Sie ist ein Gebet, das schon bald vom Zelebranten am Altar gesungen werden wird. Ich lese den Text vor:
«In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, Herr, heiliger Vater, immer und überall zu danken. Du hast deinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, mit dem Öl der Freude gesalbt zum ewigen Priester und zum König der ganzen Schöpfung. Als makelloses Lamm und friedenstiftendes Opfer hat er sich dargebracht auf dem Altar des Kreuzes, um das Werk der Erlösung zu vollziehen. Wenn einst die ganze Schöpfung seiner Herrschaft unterworfen ist, wird er dir, seinem Vater, das ewige, alles umfassende Reich übergeben: das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.»
Die Hauptperson in diesem Text ist Gott, der Jesus Christus als Priester und König der ganzen Schöpfung einsetzt. Seine Aufgabe ist die Erlösung; offenbar ist sie notwendig, da mit der Welt und dem Menschen etwas nicht mehr stimmt; etwas ist in eine Schieflage geraten. Die Erlösung geschieht nicht durch Reden, Programme und Abstimmungen, auch nicht durch Kriege und Gewaltanwendung. Sie geschieht durch ein «friedensstiftendes Opfer» «auf dem Altar des Kreuzes», wobei Jesus Christus selbst in einem das Opfer und der Opfernde ist. Das Ziel der Sendung des Gottessohnes ist schliesslich die Übergabe des ewigen, alles umfassenden Reichs: «des Reichs der Wahrheit und des Lebens, des Reichs der Heiligkeit und der Gnade, des Reichs der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.»
Die Zeit des irdischen Lebens Jesu ist bereits seit zwei Jahrtausenden vorbei und seine Wiederkunft am «Ende der Zeiten» steht noch aus. Ein Blick in die Welt lässt vom verheissenen Reich des Friedens konkret noch nicht allzu viel erkennen.
Ja, die Zeit des irdischen Lebens Jesu Christi ist vorbei, nicht aber die Zeit der 2,3 Milliarden auf der Welt lebenden Christen! Warum gelingt es ihnen nicht, sichtbarer an einer friedlicheren Welt mitzuarbeiten? Gewiss geschieht sehr viel Gutes, mehr als wir sehen und mehr als in den Medien berichtet wird. Doch einen dauerhaften umfassenden Frieden zu schaffen, ist offensichtlich nicht Sache des auf sich selbst gestellten Menschen. Der vollendete dauerhafte Friede ist wesentlich eine verheissene Gabe Gottes an Ende der Geschichte. Das Bemühen, ihm mithilfe der Gnade näher zu kommen, ist uns hingegen dringend aufgetragen. Das kann im Kleinen, manchmal sogar im Grossen ansatzweise gelingen, wenn wir uns immer wieder einen Ruck geben und versuchen, zuerst an uns selbst zu arbeiten, uns auf das Gute auszurichten und uns dann für Achtsamkeit und Angemessenheit einzusetzen, ohne die es keinen Frieden geben kann.
Kehren wir zum Bratenstück und den beiden Brüdern zurück. Die Lösung, genau in der Mitte zu teilen, hat etwas Wichtiges nicht bedacht! Die erwähnte Angemessenheit beruht nämlich nicht immer auf einem mathematischen Mittel, das nur auf den ersten Blick gerecht zu sein scheint. Man darf die konkreten Menschen nicht ausser Acht lassen. Ist doch mein Bruder zehn Jahre älter als ich – ich war damals erst fünf Jahre alt, Jürg aber fünfzehn. Ein Jugendlicher braucht mehr Nahrung als ein kleiner Junge: Angemessen wäre gewesen, wenn ich das Bratenstück ungleich zerschnitten und dem älteren Bruder freiwillig das grössere Stück überlassen hätte!
Amen.