«Was für ein alter Zopf!» könnte man beim Hören des heutigen Evangeliums (Mk 7, 1–8.14–15.21–23) denken. Und Fragen tauchen auf wie: «Was gehen uns die Reinheitsvorschriften der Juden zur Zeit Jesu an?!» oder: «Was interessieren uns heute die Spitzfindigkeiten der Pharisäer?!» So oder ähnlich mögen wir denken, um dann froh zu sein, dass Jesus uns von derartigen Fragestellungen und Äusserlichkeiten befreit hat. Denn als Christen sind wir zur «Freiheit der Kinder Gottes» (Röm 8,21) berufen. Wir brauchen uns zum Glück keine Gedanken mehr übers Händewaschen vor dem Essen oder nach dem Einkaufen zu machen. Allenfalls sind das noch Fragen der Hygiene und der guten Erziehung, aber ganz gewiss keine Fragen der Religion mehr!
Ja, liebe Schwestern und Brüder, solche Gedanken kommen womöglich auf, wenn wir diese Episode aus dem 7. Kapitel des Markusevangeliums im heutigen Gottesdienst hören. Ist das alles aber wirklich nichts weiter als ein «alter Zopf»?
Wenn ich auf meine bisherigen Erfahrungen in der Seelsorge schaue oder unsere heutige Gesellschaft in ihrem Umgang mit ethischen und moralischen Fragen betrachte, dann sind Kategorien wie «rein» oder «unrein» nach wie vor präsent – präsent vielleicht oft unter anderen Begriffen, aber präsent vor allem auch in ihren Extremen.
Da haben wir auf der einen Seite jene, die gedankenlos alles, was Freude und Befriedigung verheisst, für erlaubt betrachten und keine Sekunde überlegen, ob ihr Tun oder Lassen dem Plan und Willen Gottes entspricht. Sie führen das Wort aus dem Titusbrief «Für die Reinen ist alles rein» (Tit 1,15) ad absurdum, indem sie den Ursprung und das Fundament dieser Maxime verleugnen. Auf der anderen Seite haben wir – zwar klein an der Zahl, aber gross im Leiden – jene, die sich ängstlich darum bemühen, vor Gott stets ohne Makel zu sein und die meinen, nur durch eine engelsgleiche Existenz vor den Peinen der Hölle bewahrt zu werden. Ein schreckliches Leiden an der von Unvollkommenheit geprägten menschlichen Existenz ist die Folge, denn sie vergessen das tröstende Wort aus dem Ersten Johannesbrief: «Auch wenn unser Herz uns verurteilt: Gott ist grösser als unser Herz» (1 Joh 3,20).
Wir Menschen bewegen uns zwischen den Extremen eines hemmungslosen Hedonismus und einer skrupelgeplagten Gottesfurcht. Es lohnt sich also, dem heutigen Evangelium etwas auf den Grund zu gehen und uns zu fragen, wie wir uns zwischen den Extremen in einem guten, gesunden und gangbaren Mittelfeld bewegen können, das Gott die Ehre gibt und unserem Heil dient, wo wir wirklich etwas von der «Freiheit der Kinder Gottes» erahnen dürfen.
Die Pharisäer hatten den Anspruch, die Reinheitsvorschriften, welche ursprünglich nur für die im Tempel diensttuenden Priester und Leviten galten, auf den Alltag der ganzen jüdischen Bevölkerung anzuwenden. Der Gedanke dahinter ist eigentlich ein schöner: Jeder und jede sollte zu einem «heiligen Tempel» werden. Doch die umfangreichen Reinheitsvorschriften dienten schon bald der Abgrenzung von fremden Kulten und Lebensweisen, wurden nicht nur mit der religiösen, sondern auch mit der ethischen Identität des Volkes Israel verbunden und damit veräusserlicht. So wurde aus der Händewaschung als ursprünglich spirituell motiviertem Reinigungsritus in Erinnerung an die Berufung zur persönlichen Heiligkeit schliesslich ein unreflektierter, leerer Automatismus einer rein äusserlich verstandenen Reinheit. So ist Jesu harsche Kritik an den Pharisäern und Schriftgelehrten im heutigen Evangelium absolut verständlich. Aber Jesus bleibt nicht dabei stehen. Sondern er verbindet seine Kritik mit einer neuen Einordnung des Begriffs «Reinheit».
Und typisch für ihn, lenkt er den Blick vom Äusserlichen auf das Innere, auf das Herz des Menschen: «Hört mir alle zu und begreift, was ich sage! Nichts, was von aussen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein» (Mk 7,14-15). Und er zählt dreizehn falsche Verhaltensweisen auf, die im menschlichen Herzen ihren Ursprung haben. Wenn wir diese nochmals hören, dann merken wir, dass wohl niemand von uns ganz frei von diesen Faktoren der Unreinheit ist: «böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft» (Mk 7,21-22).
Ja, liebe Brüder und Schwestern, die Frage von Reinheit und Unreinheit bleibt auch für uns aktuell. Und sie ist für uns vielleicht sogar noch drängender als für die Zeitgenossen Jesu, weil sie existenzieller ist – sie betrifft nicht unser Äusseres, sondern den Kern unseres Wesens: unser Herz. Doch damit zeigt uns Jesus auch den Ort, wo nicht nur das Übungsfeld unserer persönlichen Heiligung liegt, sondern auch dessen Kraftquelle: in der Beziehung.
Im Umgang mit unseren Nächsten sind wir berufen, uns um Reinheit zu bemühen, was gleichbedeutend ist mit Lauterkeit, Schlichtheit, Authentizität und Transparenz. In der Gottesbeziehung schliesslich finden wir die Quelle der Reinheit und der Heiligkeit. Nur von Gott her ist es möglich, diese Qualitäten zu kultivieren und zu leben. Davon spricht Jesus im Gleichnis vom Weinstock im Johannesevangelium: «Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. […] Jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. Ihr seid schon rein kraft des Wortes, das ich zu euch gesagt habe. Bleibt in mir und ich bleibe in euch.» (Joh 15,1-4). Damit ist das Wachsen und des Reifen in der Beziehung zu Jesus Christus jener gute, gesunde und gangbare Mittelweg zwischen den Extremen eines hemmungslosen Hedonismus und einer skrupelgeplagten Gottesfurcht. Es ist eine schöne Fügung, dass das Tagesgebet des heutigen 22. Sonntags im Jahreskreis genau diese Aspekte zur Sprache bringt. Und mit diesem Gebet möchte ich diese Gedanken schliessen:
«Allmächtiger Gott, von dir kommt alles Gute. Pflanze in unser Herz die Liebe zu deinem Namen ein. Binde uns immer mehr an dich, damit in uns wächst, was gut und heilig ist. Wache über uns und erhalte, was du gewirkt hast. Darum bitten wir durch Jesus Christus. Amen.»