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Predigt von P. Mauritius Honegger am 2. Sonntag im Jahreskreis 2025

Liebe Mitchristen 

Unser verstorbener Mitbruder Pater Nathanael leitete viele Jahre die Propstei Sankt Gerold in Vorarlberg. Dort war er für viele Leute ein beliebter Gastgeber und verkörperte die sprichwörtliche benediktinische Gastfreundschaft. Wenn Pater Nathanael ein Glas einschenkte, füllte er es bis zum Rand – und das galt nicht nur für Mineralwasser und Süssmost, sondern auch für Wein. Dass es eigentlich nicht so vornehm ist, Weingläser bis zum Rand zu füllen, interessierte ihn nicht. Vielmehr wollte er mit dieser Geste eine theologische Aussage machen: «Gott ist die Fülle.» Das ist ganz auf der Linie des Johannesevangeliums, in dem Jesus an einer Stelle sagt: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben».  

Der Namenspatron unseres gastfreundlichen Mitbruders, der Apostel Nathanael, stammte aus Kana in Galiläa. Das ist das Dorf, in dem die Hochzeit stattfindet, von der das heutige Evangelium spricht. Und auch hier machen die Menschen eine Erfahrung der Fülle. Von einem Moment auf den anderen sind plötzlich umgerechnet mindestens 450 Liter Wein vorhanden – eine gewaltige Menge. 

Während alle vier Evangelien von einer Brotvermehrung berichten, ist das Weinwunder von Kana nur im Johannesevangelium überliefert. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum es am Festtag des Evangelisten Johannes vielerorts den Brauch einer Weinsegnung gibt. 

Über die Bedeutung des Weinwunders haben sich die Bibelwissenschaftler lange den Kopf zerbrochen, bis man ganz in der Nähe von Kana etwas Aufschlussreiches gefunden hat. Nicht weit entfernt liegt nämlich die Stadt Sepphoris, die die Römer als Hauptstadt der Provinz Galiläa errichtet hatten. Bei archäologischen Ausgrabungen im Speisesaal einer römischen Villa stiess man auf ein kunstvolles Bodenmosaik. Die verschiedenen Felder des Mosaiks zeigen Szenen aus dem Leben des Gottes Dionysos. Offensichtlich lebten in der Gegend Anhänger dieses griechischen Gottes, der bekannt war als Gott des Weines. 

Die Erzählung vom Weinwunder Jesu dürfte deshalb auch als Propagandatext in der Auseinandersetzung der christlichen Gemeinde mit den Anhängern des Dionysos-Kultes in ihrer Nachbarschaft zu verstehen sein: Jesus übertrifft Dionysos als Spender des Weins sowohl quantitativ als auch qualitativ. 

In den religiösen Riten zur Verehrung des Gottes Dionysos spielte der Weinkonsum natürlich eine zentrale Rolle. Man glaubte, dass das Trinken bis zum Rausch die Menschen für das Göttliche empfänglich mache, dass der Rausch den Menschen helfe, mit dem Göttlichen in Kontakt zu treten. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Ekstase, vom Hinaustreten aus der irdischen Wirklichkeit, um einzutauchen in die göttliche Sphäre.  

Wir wissen, mit welch grossen Risiken der Einsatz von Rauschmitteln verbunden ist. Aktuelle Statistiken, die das Konsumverhalten der Bevölkerung untersuchen, sind alarmierend. Allein in Deutschland waren im vergangenen Jahr über 1,4 Millionen Menschen in ärztlicher Behandlung wegen Alkoholsucht; die Dunkelziffer derer, die nicht zum Arzt gehen, dürfte gross sein. Und eine neue Studie der Universität Zürich zeigt, dass 23% der befragten jungen Erwachsenen aus dem Grossraum Zürich schon Kokain konsumiert haben. Das Abhängigkeitspotential und die Langzeitschäden für die physische und psychische Gesundheit werden dabei meist stark unterschätzt. 

Auch wenn heute niemand mehr an den Gott Dionysos glaubt – Rausch und Ekstase, die Dionysos symbolisiert, üben immer noch über viele Menschen Macht aus und halten sie in Bann. Wie bringen wir diese Problematik nun in Einklang mit dem heutigen Evangelium, in dem Jesus den Weingott Dionysos überbietet, indem er noch mehr und noch besseren Wein zur Verfügung stellt? 

Problematisch wäre es, das Evangelium so zu lesen, als ob es eine Aufforderung zu masslosem Weinkonsum wäre. Eine solche Interpretation ist sicher nicht richtig. Denn nicht der Rausch ist charakteristisch für das Christentum, sondern die Nüchternheit, warnt doch Jesus ausdrücklich in seiner eschatologischen Rede: «Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit euch nicht verwirren» (Lk 21,34). 

Und ebenso deutlich schreibt es auch der Apostel Paulus in seinem Brief an die Thessalonicher: «Wer sich betrinkt, betrinkt sich bei Nacht. Ihr aber seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir wach und nüchtern sein» (vgl. 1 Thess 5,5-7). 

Nicht die Vernebelung der Sinne ist charakteristisch für das Christentum, sondern die Klarheit des Geistes. Trotzdem aber wirkt Jesus das Wunder von Kana und verwandelt Wasser in Wein. Trotzdem spricht Jesus in seinen Predigten die Bildworte vom Weinstock und den Reben und vom neuen Wein in neuen Schläuchen. 

In seinen Gleichnissen berücksichtigt Jesus den Erfahrungshorizont seiner Zeitgenossen und erweist sich in Übereinstimmung mit der Tradition seines Volkes und ihrer grundsätzlich positiven Bewertung des Weines als wertvolles landwirtschaftliches Erzeugnis und Kulturgut. Schon ganz alte jüdische Gebete wie die Psalmen wissen, dass der Wein das Herz der Menschen erfreut (vgl. Ps 104,15). Und der Prophet Jesaja stellt sich die Heilszeit als ein Festmahl für alle Völker vor «mit den feinsten Speisen und besten, erlesenen Weinen» (Jes 25,6). 

Wer behauptet, das Weinwunder sei problematisch, weil es so viele Alkoholiker gibt, müsste konsequenterweise auch die Brotvermehrung kritisieren, weil es so viele übergewichtige Personen gibt. Die Wunder Jesu sind immer eine Reaktion auf eine konkrete Not. Was in einer Situation als hilfreich erfahren wird, hätte in einer anderen Situation möglicherweise fatale Konsequenzen. Für einen Suchtkranken wäre das Weinwunder nicht hilfreich. Nicht die Vermehrung des Suchtmittels wäre die richtige Intervention, sondern ein Heilungswunder. 

Die Wunder Jesu sind seine Antwort auf eine konkrete Not. Auf einen Mangel an Nahrung reagiert Jesus mit der Gabe von Brot oder Fisch im Überfluss, auf Krankheit und Besessenheit reagiert er mit Heilung und Befreiung. Aber auf den drohenden Abbruch einer Hochzeitsfeier reagiert er mit dem Weinwunder und tut damit sein erstes Zeichen, wie es im Evangelium heisst. 

Dieses Zeichen deutet darauf hin, dass mit Jesus Christus eine Freudenzeit begonnen hat und dass diese Freudenzeit so schnell nicht wieder enden wird. In der jüdischen Tradition ist der Wein ein Zeichen der Freude und des Festes. Später wählt Jesus den Wein erneut als Zeichen, als Zeichen für sein Blut, das er aus Liebe vergossen hat, für uns und für alle zur Vergebung der Sünden, als Zeichen für die Eucharistie, das Mahl der Liebe, das wir jetzt wieder miteinander feiern dürfen und in dem uns Gott das Leben in Fülle schenken will. Amen. 

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