Liebe Mitchristen, es kommt selten vor, dass wir im Gottesdienst eine Lesung aus dem Buch der Weisheit hören. Es ist eine wenig bekannte, aber besonders schöne Perle der Bibel. Dieses nicht sehr umfangreiche Buch steht eher am Rand der Heiligen Schrift. Wahrscheinlich ist es das jüngste Buch des Alten Testaments. Einige Bibelwissenschaftler denken sogar, dass es erst nach Christus geschrieben wurde.
Ziemlich sicher wurde das Buch der Weisheit von einem nicht namentlich bekannten, jüdischen Gelehrten geschrieben. Und obwohl es eindeutig der jüdischen Tradition zugeordnet werden kann, zählen die Juden dieses Buch heute nicht zu ihrer Bibel – mit der Begründung: Es ist nicht auf Hebräisch geschrieben. Dieser ablehnenden Haltung schlossen sich dann auch Martin Luther und die Protestanten an.
Das Buch der Weisheit ist aber keine katholische Spezialüberlieferung, denn zusammen mit der katholischen Kirche anerkennen es auch die orthodoxen Kirchen als kanonische Schrift. Es handelt sich um ein wertvolles Zeugnis des jüdischen Monotheismus aus der Zeit um Christi Geburt.
Zur damaligen Zeit war das Judentum nicht auf das Land Israel beschränkt, sondern überall im Römischen Reich hatten sich jüdische Handwerker und Händler niedergelassen und jüdische Gemeinden gegründet. Eine der grössten Diaspora-Gemeinden befand sich in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria, wo das Buch der Weisheit wahrscheinlich seinen Ursprung hat.
Als der makedonische König Alexander der Grosse im Jahr 331 vor Christus Ägypten eroberte, gründete er die nach ihm benannte Stadt Alexandria als neue Hauptstadt des einstigen Pharaonenreiches. Von hier aus sollte der makedonische Statthalter das Gebiet dieser alten Hochkultur verwalten.
Alexandria entwickelte sich rasch zu einer der grössten Metropolen im Mittelmeerraum. Von überallher strömten die Menschen hierhin auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand. Auf den Plätzen und Strassen der Stadt mischten sich Sprachen und Kulturen. Neben dem einheimischen Ägyptisch hörte man auch Hebräisch und Aramäisch, und vor allem Griechisch, das im Alexanderreich die neue Verkehrs- und Verwaltungssprache wurde.
In der jüdischen Gemeinde von Alexandria mit ihren schätzungsweise mehreren zehntausend Mitgliedern gab es viele Jüdinnen und Juden, die Griechisch sprachen. Für diese griechisch-sprachigen Gläubigen wurde die hebräische Bibel auf Griechisch übersetzt und jüdische Gelehrte verfassten auch neue Texte direkt auf Griechisch, darunter eben das Buch der Weisheit, aus dem wir heute einen kurzen Abschnitt gehört haben.
«Gott hat alles zum Dasein geschaffen und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt», schrieb der nicht weiter bekannte Autor, damals vor etwa 2000 Jahren im ägyptischen Alexandria.
Damit spielt er auf den Schöpfungsbericht im Buch Genesis an und beweist seine Verwurzelung in der jüdischen Tradition: Der eine Gott ist Schöpfer des Himmels und der Erde. Alles, was er geschaffen hat, ist heilbringend und gut: «Und Gott sah, dass es gut war», heisst es im biblischen Schöpfungsbericht gleich an mehreren Stellen.
Auch die tragische Geschichte vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies hat im Buch der Weisheit einen Widerhall: «Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt» – eine Anspielung auf die Schlange, die Adam und Eva zum Bösen verführte.
Der jüdische Autor in der multikulturellen Hafenstadt versucht eine Brücke zu schlagen zwischen der jüdischen Tradition, in der er beheimatet ist, und der griechischen Philosophie, die er in den gelehrten Kreisen Alexandriens kennengelernt haben dürfte und mit der er sich offenbar auseinandergesetzt hat. Der Schöpfungsglauben ist typisch jüdisch. Aber andere Stichworte wie «unsterblich» oder die ewige Idee der Gerechtigkeit erinnern an Konzepte der griechischen Philosophie.
Während sich die Juden zu anderen Zeiten und an anderen Orten von der griechischen Kultur scharf abgrenzten, haben wir im Buch der Weisheit das Beispiel einer fruchtbaren geistigen Auseinandersetzung vor uns.
Nur ein paar Jahrzehnte früher und ein paar hundert Kilometer weiter nördlich war es zum makkabäischen Aufstand gekommen: In der Meinung, ihre jüdische Identität zu verteidigen, lehnten gewisse jüdische Gruppen die griechische Kultur radikal ab und schreckten dabei auch nicht vor Gewalt gegen die griechischen Machthaber zurück.
Sowohl die Geschichte der Makkabäer als auch das Buch der Weisheit gehören heute zur Bibel – das eine vielleicht als warnendes Beispiel, das andere als Empfehlung zur Nachahmung. Die Makkabäer und das Buch der Weisheit zeigen zwei ganz verschiedene, ja gegensätzliche Art und Weisen, wie Juden mit der griechischen Kultur umgegangen sind: radikale Ablehnung und geistige Offenheit.
Unter veränderten Vorzeichen können wir diese Geisteshaltungen auch heute wiederentdecken. Auch heute gibt es Christen, die die westliche Kultur radikal ablehnen und verteufeln, so etwa gewisse Teile der russisch-orthodoxen Kirche, die auf diese Weise versuchen, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu legitimieren.
Aber auch hier bei uns im Westen gibt es christliche Gruppierungen, die in den Menschenrechten, in der Religionsfreiheit, in der modernen demokratischen Gesellschaftsordnung und allgemein in den Errungenschaften der Aufklärung nur das Werk des Antichristen zu sehen vermögen.
Das Buch der Weisheit, diese unscheinbare, kostbare Perle am Rande der Bibel, erinnert uns daran, dass es nicht nur den Weg der radikalen Ablehnung gibt. Schon der jüdische Monotheismus ist fähig zum Dialog und zur fruchtbaren geistigen Auseinandersetzung mit seiner kulturellen Umwelt. Wir Christinnen und Christen dürfen nicht dahinter zurückbleiben, denn noch mehr als zum Judentum gehört die Weltzugewandtheit zur Identität des Christentums. Denn der christliche Gott ist der Welt in doppelter Weise zugewandt: Er selbst ist in Jesus von Nazareth Mensch (und somit ein Teil dieser Welt) geworden und dann hat er seine Apostel ausgesandt, in die Welt, um alle Völker zu seinen Jüngern zu machen.
«Prüfet alles und behaltet das Gute», empfiehlt der heilige Paulus in einem seiner Briefe. Wer wie Paulus zu den Heiden geht, um den Glauben an Christus zu verkünden, darf den Dialog mit ihnen nicht scheuen. Aber niemand kann andere für Christus gewinnen, wenn er nicht selbst in der christlichen Tradition verwurzelt ist. Beides muss zusammenwirken: Feststehen im Glauben und Offenheit für die Welt – so wie es das Buch der Weisheit bezeugt. Amen.