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Predigt von P. Justinus Pagnamenta am Rosenkranzsonntag 2024

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Hier in Einsiedeln, an diesem marianischen Wallfahrtsort, feiern wir heute den Rosenkranzsonntag. Wir eröffnen somit feierlich den Monat Oktober, der in besonderer Weise dem Rosenkranzgebet gewidmet ist. Was sind aber Sinn und Zweck dieser besonderen Gebetsform?

Mit dem Rosenkranzgebet verweilen wir eine gewisse Zeit mit Maria und zusammen mit ihr betrachten wir die Geheimnisse des Lebens Jesu. Das Rosenkranzgebet ist somit wie ein Kompendium – wie eine Zusammenfassung – des ganzen Evangeliums, des ganzen Lebenswegs Jesu.

Es stellt sich die Frage: Welche Bibelstelle eignet sich am besten anlässlich des Rosenkranzsonntags, wenn das Rosenkranzgebet ein Kompendium des ganzen Evangeliums ist? Es versteht sich von selbst, dass wir während der Eucharistiefeier ein ganzes Evangelium nicht lesen können. Zeit dafür haben wir im Gottesdienst nicht. Passend wären sicher ein Auferstehungsbericht, ein Abschnitt aus der Leidensgeschichte oder eine Erzählung aus der Kindheitsgeschichte. Die Wahl fiel auf die Erzählung der Verkündigung des Engels an Maria. Und ich halte diese Wahl aus verschiedenen Gründen für sehr zutreffend.  

Ein Grund dafür ist, dass uns mit dieser Erzählung das erste Geheimnis des Rosenkranzes vor Augen gestellt wird: «Den du, o Jungfrau, vom Heiligen Geist empfangen hast». Es wird somit der Zugang zu allen anderen Geheimnissen eröffnet. Dabei dürfen wir Folgendes nicht übersehen: Die Verkündigung an Maria und die Menschwerdung des Sohnes Gottes sind das wunderbarste und berührendste Geheimnis in der Beziehung zwischen Gott und Mensch und nicht zuletzt auch das grossartigste Ereignis der Menschheitsgeschichte: Gott wird Mensch, für immer! Jesus, der Sohn Gottes, legt seine göttlichen Vorrechte ab, er «verzichtet» auf seine Macht, um einer wie wir – einer von uns – zu sein.

Ein anderer Grund, wieso das heutige Evangelium für das Rosenkranzfest besonders geeignet ist, sehe ich darin, dass in der Verkündigung des Engels an Maria der ganze Lebensweg Jesu mit seiner Leidensgeschichte, seiner Auferstehung und Himmelfahrt angedeutet ist. Somit ist diese Bibelstelle (wie das Rosenkranzgebet) auch ein kleines Kompendium des ganzen Evangeliums.

Den Leidensweg Jesus können wir im Hintergrund des heutigen Evangeliums erahnen. Denn indem Jesus Mensch wird, nimmt er die Grenzen und die Verwundbarkeit der menschlichen Natur auf sich. Jeder, der auch nur ein bisschen bibelkundig ist und das heutige Evangelium hört, kann nicht umhinkommen, an diesen Hymnus aus dem Philipperbrief zu denken: «Jesus Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäusserte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz» (Phil 2,6–8).

Während der Hinweis auf den Leidensweg Jesu und somit auf die schmerzhaften Geheimnisse des Rosenkranzes nur indirekt ist und eine gewisse Vertrautheit mit dem biblischen Text voraussetzt, ist der Hinweis auf die glorreichen Geheimnisse deutlicher, da sie vom Engel selbst an Maria angekündigt werden: «Er wird gross sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben» (Lk 1,32–33). 

Ich sehe aber einen weiteren und wichtigeren Grund, wieso das heutige Evangelium für das Rosenkranzfest besonders geeignet ist. Wie ich schon gesagt habe, ist der Rosenkranz eine Gebetsform, mit der wir gemeinsam mit Maria die Geheimnisse des Lebens Jesu betrachten. Aber wir können nicht bei der Betrachtung stehen bleiben. Und es ist Maria selbst, die uns mit ihren wenigen Worten lehrt, weiterzukommen: «Siehe, Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast» (Lk 1,38).

Maria weiss, dass die glorreichen Geheimnisse nur dann Wirklichkeit werden können, wenn wir unser Leben in Gehorsam und in Einklang mit dem Willen Gottes gestalten. Maria weiss, dass Gott auf uns vertraut und sich auf uns verlässt, um seinen Heilsplan zu verwirklichen. Gott braucht Maria … Gott, der Allmächtige, braucht den Menschen, um seinen Plan durchzusetzen! Das ist eigentlich etwas bisher Unerhörtes.

«Siehe, Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast». Diese Worte Marias haben nichts mit einer passiven Unterwerfung zu tun. Vielmehr sind diese Worte Ausdruck ihres Bewusstseins, eine wesentliche Rolle in der göttlichen Heilsgeschichte zu spielen.

« … mir geschehe, wie du es gesagt hast». Marias «Ja» zum Willen Gottes ist nicht das «Ja» einer Person, die resigniert, weil sie keine Alternative sieht. Maria sagt «Ja» aus Überzeugung und in einer Haltung des leidenschaftlichen Dienstes aus Liebe. Dieses «mir geschehe» ist eine wahre Explosion der Begeisterung und der Freude, im Dienst Gottes zu stehen.

Mit ihrem «Ja» lädt uns Maria ein, dasselbe zu tun. Sie lädt uns ein, unser «Ja» in Freiheit und ohne Vorbehalt zu sagen. Es ist ein «Ja», das mehr mit dem Leben als mit Worten gesagt werden muss.

Am Ende des Rosenkrangebetes ist es üblich, dieses Schlussgebet zu sprechen: «Gott, dein eingeborener Sohn hat uns durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung die Schätze des ewigen Heiles erworben. Wir verehren diese Geheimnisse im heiligen Rosenkranz der seligen Jungfrau Maria. Lass uns nachahmen, was sie enthalten, und erlangen, was sie verheissen …»

«Lass uns nachahmen, was sie enthalten» – Diese Worte sollen wir zutiefst beherzigen. Das Evangelium will und muss gelebt werden. Lasst uns also das Leben Jesu nachahmen, in den verschiedensten Umständen unseres Lebens. Unser Leben und unser Alltag sollen eine frohe Botschaft, ein lebendiges Evangelium werden. Das ist der Weg, der uns und die Mitmenschen zum Heil, zu den glorreichen Geheimnissen, führt. Amen!
 

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