Liebe Schwestern und Brüder,
Zur Zeit Jesu war der Tempel von Jerusalem das Haus Gottes auf Erden. Ist es deshalb nicht merkwürdig, dass der Sohn Gottes nach seinem Tod und seiner Auferstehung seine Jünger und Jüngerinnen nicht «zu Hause» – im Tempel – empfängt, sondern am anderen Ende des Landes, in Galiläa?
Der Prophet Jesaja nannte diese Gegend jenseits des Jordan «das Gebiet der Nationen» (Jes 8,23). Das bedeutet, dass diese Gegend mit verschiedenen Kulturen und Religionen durchmischt war. Der Evangelist Matthäus spricht sogar von «dem heidnischen Galiläa» (Mt 4,15). Der Auferstandene begegnet seinen Nachfolgern dort, wo wir ihn nicht erwarten würden: in einer heidnischen, das heisst, in einer «unreinen» Gegend.
Christus trifft seine Jünger auch nicht in einem sakralen Gebäude oder in einem spirituellen Ausnahmezustand. Er trifft sie mitten in ihrem Alltag am Arbeitsplatz.
Im Evangeliums-Abschnitt, den wir soeben gehört haben, können wir vieles allegorisch, das heisst bildlich, verstehen.
Zum Beispiel fischen die Jünger die ganze Nacht über erfolgslos. Fischen in der Nacht ist eine bekannte Fang-Technik. Die Nacht kann hier aber auch die Schwierigkeiten des Lebens oder unsere Schattenseiten darstellen. Dann erscheint Christus und mit ihm ist der Morgen da. Nach der Dunkelheit verkündet der Sonnenaufgang den Anfang des neuen Tages. Christus bringt da Licht, er ist das Licht der Welt (Joh 8,12 ; 9,5). Das erinnert uns an den Anfang des Johannesevangeliums: «Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden» (Joh 1,9-10). Und Jesus sagt weiter im Johannesevangelium: «Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben» (Joh 8,12). Mit dem Morgen bringt Jesus die Erneuerung. Mit ihm wird alles fruchtbar (siehe Joh 15,1 ff.). Jesus kommt seinen Jüngern entgegen und lässt ihre Arbeit erfolgreich werden.
Jesus spricht seine Jünger als «Meine Kinder» an. Eine Erklärung dieser Anrede finden wir ebenfalls im Johannesevangelium: «Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben» (Joh 21,12). Der erste Brief an Timotheus bringt das Thema des Lichtes und der Kinder zusammen: «Ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages» (1 Tim 5,5).
Ein anderes starkes Bild ist, dass Jesus am Ufer steht: Er ist auf festem Boden, er bringt Sicherheit. Die Jünger hingegen befinden sich auf einem Schiff, das oft unser Leben oder die Kirche darstellt. Dieses Schiff fährt auf das Wasser, ein unstabiles Element, der gefährlich sein kann. Das Schiff kann seinen bedrohlichen Kräften ausgeliefert sein, wie in der Geschichte, in der Christus durch sein Wort den Seesturm zur Ruhe bringt (Mk 4,35-41). Für die Semiten ist das Meer der Ort verborgener Mächte, ein Ort, wo Monster und Dämonen leben. Vielleicht erinnern Sie sich an die besessene Schweine-Herde in Gerasa, die ins Wasser, in ihre Welt zurückkehrt (Mk 5,1-20).
Das, was mich in diesem Evangelium besonders berührt, ist, wie Christus seine Jünger ruft, und schon eine Feuerstelle mit gebratenen Fischen und gebackenes Brot vorbereitet hat, und dies noch bevor seine Jünger die Früchte ihrer Arbeit bringen. Das gemeinsame Essen ist der Ort der Stärkung, des Teilens und des gemütlichen Beisammenseins. Das gemeinsame Essen ist Ausdruck der Zugehörigkeit, der Familie und der Liebe.
Liebe Schwestern und Brüder,
Es ist wichtig, dass wir Orte wie unsere Kirchen haben, um uns zu begegnen. Es ist wichtig, dass wir uns, wie jetzt, an bestimmen Tagen treffen, um gemeinsam zu feiern und um die Sakramente zu empfangen. Rhythmen helfen uns, Abstand von der Routine, von der Macht der Gewohnheit und von der Gottvergessenheit zu nehmen.
Mit Christus hat aber die Religion eine Wende genommen: Der Ort der Begegnung mit Gott ist nicht mehr der Tempel, sondern unser ganzes Leben. Wir sind das Haus Gottes – wir sind der Tempel Gottes (1 Kor 3,16-17). Unsere Kirchen haben nicht mehr den gleichen Zweck wie damals der Tempel in Jerusalem. Unsere Kirchen sind Orte der Begegnung.
Und es gibt nicht mehr einen heiligen Tag Gottes in der Woche. Der Tag der Auferstehung, der Sonntag, war damals, zur Zeit Jesu, der erste Werktag der Woche. Unser Sonntag ist der Tag des Gedächtnisses der Auferstehung, des neuen Lebens in Gott. Der Sonntag ist der Tag, der uns für die Erholung in Gott geschenkt ist. Die wahre Zeit, der wahre Tag des Gottesdienstes ist der Alltag in der Gegenwart Gottes! Am Jakobsbrunnen fragte die Samariterin Jesus, wo Gott angebetet werden soll, in Jerusalem oder auf dem Berg Garizim. Jesus antwortete: Weder noch – und fügte hinzu: «Die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten» (Joh 4,23-24). So ist jeder Augenblick eine Zeit der Auferstehung und des Lebens in Fülle. Jeder Ort, wo wir uns befinden, ist ein heiliger Ort. Jeder Begegnung ist eine Begegnung mit Gott (Matt 25, 40). Ja, unser christliches Leben ist vor allem ein Bewusstsein und eine Lebenshaltung im alltäglichen Dienst der Liebe, die Gott selber ist (1 Joh 4,16). Amen.