Liebe Schwestern und Brüder,
Wir brauchen nicht Gärtner oder Gärtnerin zu sein, um zu wissen, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn wir daran ziehen. Oder dass eine Blume sich nicht schneller entfaltet, wenn wir selbst versuchen die Knospe zu öffnen. Die Gefahr wird eher gross, dass wir die Pflanzen überfordern, verletzen, ja sogar zerstören. Wenn es so ist mit der Schöpfung Gottes, warum sollte es anders gehen mit unserem spirituellen Leben? Warum sollte es anders gehen mit dem Reich Gottes oder mit der Kirche?
Im heutigen Evangelium vergleicht Jesus das Reich Gottes mit etwas, das lebt und wächst. Er sagt sogar, dass «die Erde von selbst ihre Frucht bringt» (v. 28). «Der Sämann schläft und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiss nicht, wie» (v. 27).
Es gibt eine Lebenskraft, die am Werk ist. Die heilige Hildegard von Bingen nannte sie die «Viriditas», das heisst die «Grünkraft». Das ist die Kraft Gottes, die alles belebt, bewegt und das Wachstum schenkt. Es ist diese Kraft, die im Frühling so sichtbar ist und nach dem Winter die Natur so wunderbar verwandelt. Diese gleiche Lebenskraft belebt und lässt das Reich Gottes wachsen. Der heilige Paulus schreibt an die Kirche in Korinth: «Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber liess wachsen. So ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begiesst, sondern nur Gott, der wachsen lässt» (1 Kor 3,6-7).
Als die Pharisäer fragten «wann das Reich Gottes komme», antwortete Jesus: «Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch» (Lukas 17,20-21). Wir hätten auch diesen letzten Satz mit «Das Reich Gottes ist in Euch» übersetzen können. Deshalb sagt Jesus weiter: «Man wird zu euch sagen: Siehe, dort ist er! Siehe, hier ist er! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!» (Lukas 17,23).
Das Reich Gottes hat nicht primär mit Raum und Zeit zu tun. Es ist nicht mit dem Paradies zu verwechseln. Das Reich Gottes ist eher als «Wirken Gottes» zu verstehen. Gott und sein Reich sind nicht da, wo wir sie zu finden glauben. Sie sind da, wo wir sind. Nicht morgen werden wir das Reich Gottes finden, sondern jetzt in dem Mass, wie wir es jetzt erkennen und annehmen können.
Das Wachstum des Reiches Gottes hat auch nicht unbedingt mit der Zeit zu tun, die wir auf den Knien verbringen, oder mit der Anzahl der Rosenkränze, die wir beten. Auch nicht mit unserer Askese, nicht mit dem Verzichten oder mit dem Empfang der Sakramente. Das alles sind wertvolle Mittel, um uns mit Gott zu vereinen und um besser lieben zu können. Sie können aber auch missbraucht werden und eine Art und Weise sein, vor der Wirklichkeit, vor unsere Nächsten, vor unserer Verantwortung zu fliehen. «Wir erkennen einen Baum an seinen Früchten», sagt Jesus (siehe Mt 7,16-20; 12, 33 / Lk 12,43-45). Diese Früchte sind: Friede, Gerechtigkeit, Liebe. So zeigt sich das Reich Gottes durch unsere Bemühungen, unsere Nächsten bedingungslos anzunehmen, zu lieben und ihnen zu dienen.
Diese Früchte sind am Wachsen, auch wenn uns der Alltag oft einen ganz anderen Eindruck macht. So schreibt Paulus an die Kirche in Rom: «Wir wissen ja, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und insgesamt in Wehen liegt bis jetzt. Aber nicht nur sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns in Erwartung der Sohnschaft, der Erlösung unseres Leibes» (Röm 8,22-23).
Liebe Schwestern und Brüder
Das Wachstum und die Geschwindigkeit des Wachstums des Reiches Gottes liegen nicht in unseren Händen. Es ist eine Gabe Gottes, die nach seiner Weisheit geschieht. Deshalb sind für uns Geduld, Vertrauen und Loslassen so wichtig. Das einzige, was wir machen können, ist uns zu bemühen, einen guten Boden, eine gute Erde zu sein, wo der Samen Gottes gedeihen kann, wie alle Evangelien es verkünden (siehe Mt 13, 1-23 ; Mk 4, 1-20 ; Lk 8, 4-15). Es nützt nicht zu klagen, das es Kriege in der Welt gibt oder zu urteilen über Länder oder Politiker, so lange Unfriede in unseren eigenen Herzen herrscht - solange wir nicht bereit sind, Versöhnung und Frieden in unserer nächsten Umgebung zu verbreiten. Der Unfriede in der Welt ist der Ausdruck unseres inneren Unfriedens. Die heilige Hildegard sagt: «O Mensch, in dir sind Himmel und Erde. Du kannst aus dieser Welt einen Himmel auf Erden machen». So können wir beten: Vater unser im Himmel möge dein Reich, dein Wirken in unseren Herzen und so in der Welt geschehen, Amen.