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Predigt von P. Cyrill Bürgi am 32. Sonntag im Jahreskreis, 10. November 2024

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN

Kennen Sie grossherzige Menschen? Menschen, die einem mit grossem Herzen begegnen? Man fühlt sich ohne Vorbehalt angenommen. Man wagt auch mit einem Anliegen zu kommen, weil man mit Zuversicht weiss, dass man wohlwollend aufgenommen wird. Und wenn dir jene Personen nicht helfen können, so helfen sie dir doch anderweitig – und sei es durch wohltuendes Verständnis oder mit einem guten Wort ganz gemäss der Regel des heiligen Benedikt: «Wenn er nichts hat, was er einem geben könnte, schenke er ihm wenigstens ein gutes Wort; … ein gutes Wort geht über die beste Gabe (RB 31,13f)». Für mich sind solche Menschen grosse Vorbilder. Gerne würde ich einen ebenso hoch¬herzigen, gastfreundlichen und freigebigen Umgang pflegen können.

In den heutigen Lesungen haben wir zwei Beispiele von freigebigen Menschen vorgestellt bekommen. Beide verwitweten Frauen – jene in Sarepta und jene im Tempel zu Jerusalem – hatten nicht viel zum Leben und nicht viel zum Sterben, trotzdem teilten sie das, was sie hatten. Das geschah nicht aus Fatalismus im Sinne von «Ich habe ja sowieso nichts mehr zu verlieren» oder «Auf das kommt es auch nicht mehr darauf an!» Nein, sie handelten aus einem tiefen Vertrauen, dass Gott sie auch in höchster Not nicht vergessen wird. Prompt erhält die Witwe in Sarepta eine Antwort auf ihr vertrauensvolles Tun: «Fürchte dich nicht! Geh heim und tu, was du gesagt hast!» (1 Kön 17,13).

Freigebigkeit ist nicht einfach ein angeborener Charakter-zug. Hinter einer solchen Tugend steckt viel Arbeit an sich selbst und noch mehr das tiefe Vertrauen, dass ich getragen und geborgen bin. Dieses Urvertrauen nimmt mir die Angst, zu kurz zu kommen. Der eigenen Grosszügigkeit geht eine erfahrene Grosszügigkeit voraus. Ein Mensch mit einem weiten Herzen weiss sich geborgen in etwas viel Grösserem. Er weiss sich getragen von jenem, dessen Liebe reicht, so weit der Himmel ist, und dessen Treue so weit die die Wolken ziehen (vgl. Ps 36,6; 57,11; 108,5).

Dieser gütige Schöpfer «neigt sich mir zu und macht mich gross», ja, «er schafft meinen Schritten weiten Raum» (Ps 18,36). Das ist die Erfahrung des Psalmisten: «Gott führt mich hinaus ins Weite» (Ps 18,20) – aus der Enge in die Freiheit der sich verschenkenden Liebe. Grosszügigkeit ruft Grosszügigkeit hervor. 
Von dieser Erfahrung schreibt auch Benedikt im Vorwort zur Regel: Wer sich in Gott geborgen weiss, «dem weitet sich das Herz, und mit der unsagbaren Freude der Liebe eilt er voran auf dem Weg der Gebote Gottes» (RB Vw 49). Grossherzigkeit ist ein Geschenk des Vertrauens, nicht als Lohn oder Entgelt, sondern als Folge der selbstlosen Hingabe. 

Grosszügigkeit meint auch nicht Verschwendung. Benedikt empfiehlt dem Cellerar die Grossmütigkeit: «Er suche nicht knauserig zu sein und nicht verschwenderisch, er verschleudere den Besitz des Klosters nicht, sondern er halte in allem Mass» (RB 31,12). 
Grosszügigkeit darf sehr wohl ihre Grenzen haben: «Äussert vielleicht ein Bruder unvernünftige Wünsche, soll er ihn nicht kränken, indem er ihn mit Verachtung abweist, sondern in Demut und unter Angabe der Gründe soll er die unge¬hörige Bitte ablehnen» (RB 31,7).

Der Bittsteller soll nicht gedemütigt, sondern aufgebaut werden. Ein knausriger Geber würde den Bittsteller traurig und unbefriedigt zurücklassen. Andererseits kann verschwenderische Gabe den Beschenkten überfordern und ihn vom Wesentlichen ablenken. Bei der Gross-herzigkeit geht es um die Herzen und den Funken, der zwischen den Herzen springen kann. So zeichnet sich Grosszügigkeit nicht so sehr durch die grosse Quantität der Gabe aus. Grosszügigkeit baut den Menschen auf. Die Herzen sollen dabei warm werden – durch ein Lächeln und die freund¬liche Geste, durch die Spontaneität und die Leichtigkeit, aber auch durch das Tragen und Ertragen. Weil ich mich selber geborgen und getragen weiss, darf ich borgen und tragen.

In den Evangelien wird dieses Geschehen manchmal als Forderung formuliert: «Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden, und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen» (Lk 12,48). Ich meine aber, dass eine solche gebotene Forderung am Sinn der Grossherzigkeit vorbeigeht. Grossherzigkeit ist kein Gebot, sondern ein Verlangen, eine Sehnsucht, weil ich meinerseits solche erfahren habe. Ich möchte weitergeben, was ich empfangen habe. Hochherzigkeit im Denken, Reden, Geben, Hingeben und Vergeben. Grossmütigkeit im Schenken, Verschenken und Versöhnen. «Umsonst habe ich empfangen, umsonst will ich geben» (vgl. Mt 10,8). Das ist doch genau die Sinnspitze des Abschnittes im Römerbrief, den wir so oft hören: «Angesichts des grosszügigen Erbarmens Gottes ermahne ich euch, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen» (vgl. Röm 12,1). Die Grossherzigkeit Gottes klopft an unsere Grossherzigkeit an.

Das frühe Christentum hat das verstanden und gelebt. Dieses Verhalten war so attraktiv – eben anziehend – dass viele Menschen genauso leben wollten. Und indem sie sich freimütig auf Christus eingelassen haben, haben sie den grossherzigen Gott kennengelernt, der wiederum ihre Grossherzigkeit hervorrief. Auf diese Weise hat sich das Christentum auf natürliche Weise ausgebreitet und es wird sich auch heute nicht anders verbreiten, als dass wir die Hochherzigkeit leben in unseren Pfarreien, Klostergemeinschaften, Familien und Arbeitsplätzen. Das eine Gute ruft das andere hervor.

Und so wie die beiden verwitweten Frauen in den Lesungen nichts von ihren besonderen Verdiensten wussten, sondern einfach aus innerem Verlangen und tiefem Gottvertrauen handelten, so üben auch wir sie nicht, weil Gott sie fordert, sondern weil wir gar nicht anders können angesichts seiner Grossherzigkeit.
Beten wir um das Urvertrauen in Gottes Güte. Beten wir auch um ein grossherziges Herz, damit unser Leben IHN widerspiegelt, der der Quell allen Lebens ist.

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