Liebe Schwestern und Brüder, es ist eine wahrhaft gespaltene Gesellschaft. Überall nur Streit und Konflikt. Um das zu sehen, genügt es in die Strassen zu blicken und den Diskussionen zuzuhören; eine unerhörte Spannung ist da zu spüren. Die Gelehrten und die für das Gemeinwohl Engagierten sowie die politischen und religiösen Verantwortungsträger sollten ja eigentlich Orientierung und Halt geben, auf Grundlage der gemeinsamen gesellschaftlichen Wertebasis und Identität der Gesellschaft Perspektiven aufzeigen. Stattdessen zerfallen sie in polarisierte Parteiungen, zerstreiten sich über Detailfragen und drängen Personen, die Visionen und tiefere Einsichten in Sinn und Ziel der Welt mitbringen, an den Rand.
Seit Jesus in Jerusalem eingezogen war, führte er verschiedene Gespräche mit Pharisäern, Sadduzäern, Herodianern, Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ältesten. Leider führte kein einziges davon in einen echten Dialog oder auch nur eine Diskussion auf Augenhöhe. Bei den Begegnungen verweigerten sie die Antwort, man wollte Jesus verhaften lassen, liess ihn stehen und ging weg, versuchte ihn mit hinterlistigen Fragen in Fallen zu locken oder mit unlösbaren Fragen in Widersprüche zu verwickeln. Um eine wahrhaftige Auseinandersetzung mit Jesu Glaubensüberzeugungen und seiner Auslegung der Heiligen Schrift geht es niemandem. Keiner hörte Jesus zu. Wirklich keiner?
Im Vers vor dem Abschnitt, den wir gerade gehört haben, heisst es: «Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn».
Immerhin einer hatte zugehört. Und auch während des Gesprächs hört er gut zu und antwortet Jesus mit Verständnis. Darauf versichert ihm Jesus: «Du bist nicht fern vom Reich Gottes». Zuhören scheint sich also auszuzahlen. Und ich denke, dass uns das Stichwort des Hörens noch mehr an das Verständnis der heutigen Lesungen heranführt.
Zugegebenermassen fällt es nicht besonders auf und scheint auch nicht so wichtig zu sein und doch kam ja das Wort «Höre» im heutigen Evangeliumsabschnitt vor. Und dieser Abschnitt kam Ihnen beim Vortragen vermutlich auch schon bekannt vor. Denn wir haben diesen Teil des Textes gerade vorher als Lesung gehört. In seiner Antwort an den Schriftgelehrten, der nach dem ersten Gebot von allen fragt, zitiert Jesus aus dem Buch Deuteronomium: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Dieses Zitat, mit dem als Antwort Jesus den Schriftgelehrten sehr zufriedenstellt, ist im Buch Deuteronomium der Versuch, alles, was den Bund des Volkes Israel mit Gott ausmacht, auf eine kurze Formel zu bringen. Diese Formel, nach den ersten Worten «Shema Jisrael: Höre, Israel» genannt, ist bis heute ein Grundbekenntnis des jüdischen Glaubens, das von Jüdinnen und Juden am Morgen, am Abend und vor dem Einschlafen gebetet wird. Was aber bedeutet es, dass ein so wichtiger religiöser Text mit dem Wort «Höre» beginnt?
Zunächst einmal macht dies die Überlieferung und Tradition dieses Gebetes und des ganzen Glaubens an unseren Gott bewusst. Glauben gründet nämlich immer darauf, dass man von jemandem ein Bekenntnis und Zeugnis von diesem Glauben gehört hat und dem für sich selbst zustimmen konnte und dann selbst anderen gegenüber bekennt, hörbar macht.
Es geht aber noch um eine andere als die sachliche Ebene, also dass man den Inhalt eines Glaubensbekenntnisses hört. So heisst es in dem Deuteronomiumsabschnitt vor dem eigentlichen Shema Jisrael nicht nur, dass das Volk Israel, damit ihm Wohlergehen und langes Leben zukommen, die Gebote Gottes halten sollte, sondern auch ganz allgemein, dass die Israeliten hören sollen.
Wichtig ist also nicht nur, was und worauf man hört, sondern das Hören an sich. Es meint eine Haltung, eine bestimmte Art, wie man lebt und handelt.
Im Volk Israel der alttestamentlichen Zeit und im Umfeld des antiken Vorderen Orients bedeutete Hören die Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Für den Zusammenhalt von Gemeinschaft und somit Wohl und Sicherheit aller braucht es Kommunikation, braucht es die Offenheit, sich sagen zu lassen, was für das Gemeinwohl wichtig ist. Menschen, die nicht hören wollen, bringen Chaos und Zerstreuung, weil sie sich in sich und ihre eigenen Angelegenheiten verschliessen.
Auch wenn Jesus im Evangelium mit dem Gebot der Nächstenliebe vom Wortlaut her den Text aus dem Deuteronomium ergänzt, impliziert auch schon das Shema Jisrael mit der Haltung des Hörens eine Ausrichtung auf den Nächsten und die Gemeinschaft. Wörtlich findet sich das Gebot «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» im Alten Testament im Buch Levitikus in einer Zusammenstellung verschiedenster Weisungen Gottes an sein Volk. Es ist also kein Wunder, dass einem Kundigen des Alten Testaments, wie dem Schriftgelehrten im heutigen Evangelium, die Antwort Jesu auf seine Frage nach dem ersten Gebot einleuchtet: Wenn eine Haltung des Hörens auf Gott und seinen Willen Grundlage des biblischen Glaubens ist, bedeutet dies auch, sich mit der gleichen Offenheit, Wertschätzung und Dienstfertigkeit seinen Mitmenschen zuzuwenden, also mit einer Liebe, die aus dem Hören kommt.
Jesu Forderung der Nächstenliebe ist also mit Blick auf das Alte Testament nicht revolutionär-neu, sondern fliesst ganz natürlich aus der Liebe, die Antwort auf die Liebe Gottes zu den Menschen ist. Denn die eben beschriebene Haltung des Hörens gegenüber anderen Menschen kommt ja nicht von Nichts. Sie folgt dem Hören auf Gott, das Vertrauen darauf ist, dass zuerst Gott sich den Menschen zuwendet und ihnen glückliches Leben verspricht. Die Gebote Gottes sollen ja keine Einschränkungen der Freiheit und Gängelungen sein, sondern einen Raum der Entfaltung hin zu gelungener Existenz ermöglichen. Zunächst ist es Gott, der die Menschen ernstnimmt, respektiert und wertschätzt.
Auf diese liebende Zuwendung Gottes zu den Menschen hin auf Gottes Weisungen zu hören kann keine untertänige Folgsamkeit sein. Stattdessen geht es um echten Gehorsam, aber nicht um Kadavergehorsam, also eines Toten, sondern um die Haltung des Hörens, wovon das Wort Ge-horsam ja kommt. In ein wunderschönes Bild bringt dies der Anfang der Benediktsregel: Höre auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat!
Wer auf die Weisung des Meisters, also die biblische Offenbarung Gottes, das Evangelium Jesu Christi, wirklich hört, sich dem liebend zuwendet, dem werden selbst Gebote und Zumutungen zum Zuspruch eines gütigen Vaters, dem man mit der liebenden Tat des Kindes antworten kann. So ist das Hören genau jene Haltung, die dazu führt, «den Herrn, deinen Gott, zu lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft». Nächsten- und Gottesliebe sind also im Doppelgebot der Liebe des Evangeliums nicht zufällig aneinandergefügt. Sie ergeben sich beide aus einer Haltung des Hörens, das heisst der Zuwendung und Achtsamkeit.
Am Ende des heutigen Evangeliums hörten wir, dass es niemand mehr wagte, Jesus eine Frage zu stellen. Insofern damit polemischen Fangfragen verhärteter Fronten gemeint sind, ist das gut. Jedoch führte dieses Schweigen und diese Verweigerung letztlich bis zur Kreuzigung Jesu. In der Auferstehung Jesu zeigt Gott, dass sich seine Liebe zu den Menschen und Hoffnung für ein besseres Zusammenleben unter den Menschen und mit ihm auch durch dieses schlimmste Ausschlagen der Gottes- und Nächstenliebe nicht zerstören lässt. So hoffe ich, dass wir dem Vorbild des Schriftgelehrten folgen und unsere echten Fragen und offenen Ohren vor Jesus bringen. Dann wird er auch uns in die Haltung des liebenden Hörens aufeinander und auf Gott führen. Amen.