Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Vor nicht allzu langer Zeit, liebe Schwestern und Brüder, sass ich mit ein paar Mitbrüdern in einer gemütlichen Runde, als plötzlich jemand dieses Gedicht Conrad Ferdinand Meyers anhob. Schon nach der ersten Zeile stimmte Pater Alois mit ein und pries in alten poetischen Worten die Schönheit eines römischen Brunnens, wie er sein plätscherndes Wasser von einer Schale in die nächste ergiessen lässt: „Und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht.“
Dieser gemeinsam erlebte Moment hätte für Pater Alois typischer nicht sein können: Nicht nur, dass er diesen Text überhaupt kannte und dass er ihm offensichtlich zusagte und dass er ihn sogar auswendig rezitieren konnte, sondern auch, dass sich diese Szene in einer geselligen Runde abspielte, bei einem Glas Wein, weissen natürlich. Dass diese Erinnerung gleich auf mehreren Ebenen zum Verstorbenen passt, ist sprechend für ihn, war er doch ein vielschichtiger Mensch. So meinte etwa ein ehemaliger Mitschüler auf die Nachricht seines Todes: „Es mag mi gad zimli, dass dä Alois gstorbä isch. Ich hanä guet mögä uf sini Art, au wänni sini sensibli Siitä ersch chli spat entdeckt han anem.“
Sechs Jahre lang war er unser Lateinlehrer, wobei es uns zumindest als 13-jährige Erstklässler so schien, als wüsste er schlichtweg alles. Dieser Eindruck führte gar so weit, dass wir davon ausgingen, dass er die Abenteuergeschichten des römischen Jungen Quintus, aus denen er uns – das Buch habe ich hier mitgebracht – ab und zu vorlas, ad hoc aus dem Lateinischen übersetzte. Wir hätten es ihm zugetraut. Später, bei Besprechungen zu meiner Maturaarbeit, die ich bei ihm über ein Werk des frühchristlichen Schriftstellers Tertullian schrieb, kam ich kaum aus dem Staunen über die imposante Bücherwand heraus, die in seinem Zimmer stand. Es dauerte nochmals eine Weile, bis ich verstand, dass er weit mehr war als der beeindruckende Gelehrte, den ich bislang in ihm gesehen hatte: treuer Freund, leidenschaftlicher Seelsorger und Beichtvater, begnadeter Prediger, der mit seinen Worten die Leute in einer Alpkapelle genauso zu erreichen vermochte wie die Zuhörerschaft bei einer theologischen Abendveranstaltung.
Ein hochgebildeter Theologe und Altphilologe, belesen in Belletristik gleichermassen wie in Fachliteratur, Wissenschaftler und Mönch, vormittags vor einem Artikel kritischer Bibelauslegung, abends kniend in Anbetung vor dem Tabernakel: Pater Alois verstand es, fides et ratio – Glaube und Denkvermögen, Kopf und Herz – auf edelste Art zu vereinen. So übersetzten wir in seinem Lateinunterricht nicht nur spitzzüngige Reden Ciceros, sondern auch Abschnitte aus der Heiligen Schrift und aus der Benediktsregel. Und er war es auch, der mich auf meine Bitte hin noch als Schüler das lateinische „Ave Maria“ lehrte.
Erst kürzlich ging unser Gespräch über den römischen Philosophen Seneca. Diesen hatte – wie viele Schriftsteller, ja wie die Menschen insgesamt zu allen Zeiten – die Tatsache umgetrieben, dass unser Leben nicht nur vergänglich, sondern auch kurz ist. Wie reagiert der Mensch darauf? Wir könnten verzweifeln ob der scheinbaren Sinnlosigkeit des Lebens, unseres Seins und Tuns, das doch so schnell dem Vergessen anheimzufallen scheint. Wir könnten aber auch quasi als Flucht nach vorn versuchen, aus der kurzen Zeitspanne menschlichen Lebens möglichst viel herauszupressen, indem wir uns ganz dem Genuss hingeben, stets bestrebt, ja keinen flüchtigen Moment der Freude zu verpassen: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“ (1Kor 15,32) Und ein dritter Weg? Es ist der Versuch, auf etwas zu bauen, das bleibt – und dadurch selbst Anteil an dessen Ewigkeit zu erhalten.
Wie dies zu erreichen ist, trieb auch den reichen jungen Mann um, von dem wir im Evangelium gehört haben: „Was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Die Gebote, die Christus ihm – ja uns – aufzählt, verstand Pater Alois richtig nicht als Einschränkung, als Einengung, sondern als Wegweiser hin zu einem Leben in Fülle, das allein aus der Beziehung zum Geber alles Guten strömt, als Wegweiser zu innerer Freiheit und zu Gelassenheit, nicht zuletzt anderen gegenüber. Dabei sind niemals die Gebote an sich das letzte Ziel. Vielmehr sollten sie immer etwas Höherem, dem Leben dienen. Mir scheint, dass alles, was Pater Alois tat, dem Leben dienen sollte, dem Wohl der Menschen. Der Pfad zu Gott geht nie am Menschen vorbei. Indem Pater Alois diesen von Christus beschriebenen Weg beschritt, in aller Freiheit irdischen Gütern gegenüber und im Bewusstsein, hier keine Bleibe zu haben, sondern sich auf das kommende Ewige auszurichten – genau dadurch liess er doch auch hier etwas Bleibendes zurück, bei uns.
Denn ich habe mich, liebe Schwestern und Brüdern, in den letzten Tagen oft gefragt, auch an seinem Sarg, wie es ihm nur gelang, die Brücke zu so unterschiedlichen Menschen zu schlagen. Wie kommt es etwa, dass so viele ganz unterschiedliche Menschen betroffen davon sind, dass er nicht mehr unter uns ist? Vielleicht dadurch, dass er immer sich selbst blieb und nie einen Hehl aus seinen Überzeugungen machte, mit wem er auch gerade sprach. Und dachte dieses Gegenüber auch noch so anders als er, konnte er ihm doch Wertschätzung, ja gar Bewunderung entgegenbringen und dies auch zum Ausdruck bringen – konnte er sich herzlich mit ihm freuen, aber genauso auch von Herzen mit ihm leiden. Mit seinem gesunden Selbstbewusstsein sah er sich auch nie veranlasst, bei anderen nach Anerkennung zu heischen oder eifersüchtig so sein zu wollen wie andere. Unterschiedliches hat er dabei nie übersehen, noch wegzureden versucht. Er konnte es vielmehr pointiert benennen. Aber gerade weil er den anderen anders sein liess, konnte er eine Brücke zu ihm schlagen.
Das Leben besteht aus unterschiedlichen Polen, das erfahren wir alle, aus Polen, die es miteinander zu verbinden gilt, die miteinander in Einklang zu bringen sind, ohne sie zu vermischen, weil wir die Spannung nicht aushalten könnten. Conrad Ferdinand Meyer hat es in seinem eingangs zitierten Gedicht mit dem Ineinander von Geben und Nehmen der einzelnen Wasserschalen des römischen Brunnens bildhaft zum Ausdruck gebracht. Nicht selten sind diese Pole in uns selbst. An Pater Alois haben wir gesehen, wie diese Lebensaufgabe gelingen kann, die Brücke zu schlagen zwischen scheinbar Gegensätzlichem, etwa zwischen Offenheit für Neues, die Bereitschaft, sich zu verändern und die Treue zu sich selbst, auch zwischen Strenge und Liebe. Auch wir, wir alle, stehen vor dieser Aufgabe – auch davor, auf Erden zu leben und sich doch auszustrecken nach dem Unendlichen, auch zu trauern über den Verlust eines geliebten Menschen und sich darüber zu freuen, dass er sein ersehntes Ziel erlangt hat: das ewige Leben. Amen.