Heute Dienstag, 11. Juni 2024 beginnt mit einer kühl-nassen Premiere die Spielperiode des Einsiedler Welttheaters im 100. Jahr seines Bestehens. Dazu hat Abt Urban für die Zeitung "Einsiedler Anzeiger" ein Grussbotschaft verfasst und bei der Eröffnungsfeier der Premiere ein Grusswort gesprochen, die wir an dieser Stelle publizieren. Weitere Informationen zum Welttheater mit Hinweisen zu den Spieldaten und der Möglichkeit zum Bestellen eines Tickets finden Sie auf der Webseite www.einsiedlerwelttheater.ch.
Bitte beachten Sie, dass an jenen Abenden, an welchen das Einsiedler Welttheater auf dem Klosterplatz gespielt wird, die Klosterkirche bereits um 20.20 Uhr (und nicht erst um 21.00 Uhr) geschlossen wird. Die Komplet, das Nachtgebet unserer Mönchsgemeinschaft, kann um 20.00 Uhr wie gewohnt mitgefeiert werden. Herzliche Einladung dazu!
Grussbotschaft von Abt Urban "Die Botschaft des Welttheaters 2024 in unseren Ohren"
Seit nunmehr genau hundert Jahren spielt die Einsiedler Bevölkerung auf dem Klosterplatz vor der Fassade unseres Klosters ein Stück, das die Menschen bewegt. Auch für uns Mönche ist die jeweilige Interpretation des Inhalts des barocken Textes aus dem 17. Jahrhundert immer wieder Anlass, uns über die zentralen Fragen des Lebens aus einer neuen Perspektive heraus Gedanken zu machen.
Fragen aller Zeiten
Welche Rolle ist meine Rolle? Was war vor meiner Zeit auf Erden und was wird danach sein? Und wozu das alles? Das sind die grossen Fragen der Menschheit, das sind die Fragen jedes Einzelnen, und zwar aller Zeiten. Wir Mönche stellen sie uns selbst und wir hören sie von den Menschen, die wir in der Schule, in der Wallfahrt, in den Pfarreien oder sonst wo begleiten. Wir freuen uns, dass die Macher des Welttheaters, allen voran Lukas Bärfuss und Livio Andreina versuchen, in ihrer Sprache eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Dass es keine fertige Antwort sein kann, sondern vielmehr ein Anstoss für das eigene Weiterdenken, für die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema, liegt in dessen Natur.
Komplex, aber nicht alleingelassen
Vielleicht ist die Wirklichkeit, in der wir heutige Menschen nach einer Antwort ringen, komplexer als zur Zeit Calderóns, des ursprünglichen Autors des Welttheaters. So sind etwa Rollen nicht mehr klar vorgegeben, noch weniger klar voneinander zu trennen. Das möchte Lukas Bärfuss in seiner Adaption aufgreifen, wenn er alle Rollen des Theaters von einer einzigen Person spielen lässt. Dass er diese Person Emanuela nennt, scheint ebenfalls eine Botschaft zu vermitteln: Denn «Emanuel» ist der Name des Gottessohnes, der nichts anderes bedeutet als «Gott mit uns». Der Sohn Gottes, Jesus Christus, weiss, was es heisst, ein Leben als Mensch zu führen. Er kennt die Fragen des Lebens, seine Freuden und Herausforderungen aus eigener Erfahrung. Gerade deshalb können sein Vorbild und seine Antworten für unser Leben etwas sagen.
Botschaft der Hoffnung, der Ermutigung und des Trostes
Eine wichtige Rolle spielt im Stück die Gnade, die allerdings gerade nicht als Rolle gespielt werden kann. Sie ist es aber, die am Schluss allem einen Sinn verleiht und die Suchenden beschenkt mit einem nicht in Worte zu fassenden Blick der Hoffnung auf alles Geschehen, mit Zuversicht im Herzen, mit der Fähigkeit, sich vertrauensvoll in die Hand von jemandem über sich selbst zu legen und dabei zu wissen, dass es gut so ist. Diese Gnade kann man sich nicht verdienen, auch nicht erringen, erkaufen oder erstreiten. Sie ist ein Geschenk, das kommt, wann es kommen will.
Wir Mönche hoffen, dass gerade diese Botschaft für die Zuschauerinnen und Zuschauer eine hoffnungsvolle Perspektive auf das Leben schenkt, inmitten von allen Herausforderungen und Unwägbarkeiten, indem es den Blick darüber hinaus lenkt – oder besser gesagt hinauf, zu jemandem, der uns in Liebe, aber auch in aller Freiheit durch das Leben geleitet.
Abt Urban Federer OSB
Grusswort von Abt Urban Federer an der Eröffnungsfeier zur Premiere des Welttheaters Einsiedeln 2024
«Hochverehrte Gäste und edle Anwesende, strahlende Sterne am Firmament des Lebens! In diesem feierlichen Augenblick, umringt von der Pracht des Augenblicks, lassen uns die goldenen Strahlen der Vergangenheit und die funkelnden Sterne der Zukunft innehalten. Lasst uns gemeinsam eintauchen in die Poesie des Lebens, die uns umgibt und durchdringt.»
Dieser Anfang meines Grusswortes, liebe Anwesende, ist nicht nur nichtssagend. Er ist auch irreführend und falsch. Das sage ich natürlich nur, weil diese Worte nicht von mir stammen, sondern von ChatGPT. Ich habe diesem Chatbot den Auftrag gegeben: Schreibe mit eine Ansprache im Stil von Pedro Calderón de la Barca. Falsch sind diese Sätze nur schon, weil Calderón nicht einfach eine schwulstige Sprache zum Ziel hatte, sondern einen Inhalt, dem die Sprache dient. Nichtssagend ist diese Ansprache, weil sie eben gar nichts sagt. Aber vor allem sind diese Zeilen irreführend. Sie suggerieren barocke Leichtigkeit mit etwas Pathos, was so nicht zum Barock gehört. In Wirklichkeit geben uns diese Sätze gegen unseren Willen eine Identität: Wollen Sie wirklich «strahlende Sterne am Firmament des Lebens» sein? Sind die Strahlen der Vergangenheit wirklich «golden» und die Sterne der Zukunft «funkelnd»? Leiden wir nicht vielmehr oft an der Vergangenheit und haben Angst vor der Zukunft? Was Calderón nicht bieten wollte: eine «Poesie des Lebens», die uns einlullt. Er stellte Lebensfragen!
Das Tragische an diesen Eingangs-Sätzen ist, dass Algorithmen sie im Netz zusammenstellten aus all dem, was sie zu Calderón fanden. Es muss unbedingt ein anderes Bild zu diesem Dichter ins Internet, es braucht ein Verständnis davon, wie modern die Lebensfragen des Barock noch heute sein können, wenn sie allgemein menschlich und damit klassisch sind. Darum braucht es ein Spiel, das die allgemeingültigen Fragen Calderóns aufnimmt und in die Gegenwart trägt: Es braucht das Einsiedler Welttheater!
Identität kommt aus dem Austausch mit anderen und mit der Welt. Kann mir KI meine Identität geben? Identität ist für mich – neben dem Problem der Vereinsamung – eine der zentralen Fragen dieses Jahrhunderts: Wer bin ich? Wie sehen mich andere? Welches Bild gebe ich von mir? Was hält uns als Gesellschaft zusammen? In einer Zeit, wo Geschlechter fluid geworden, Lebensrollen vorläufig und Partnerinnen und Partner für einen Lebensabschnitt da sind, macht es mich misstrauisch, wenn Algorithmen daher kommen und meinen, mich mit ein paar Worthülsen definieren zu können. Heute ist es nicht mehr die Macht der Aufklärung, der Kirchen oder eines Staates, die uns definiert. Heute befindet sich diese Macht, die das Spiel von Lukas Bärfuss und Livio Andreina in grossen Bildern darstellt, etwa in unseren Händen. Meinen wir, unsere Identität damit «im Griff» zu haben? (Handy mit der Hand umfassen).
Verehrte Damen und Herren, den Klosterplatz, Einsiedeln, das Kloster: diesen Ort beeinflusst seit mehr als 1'100 Jahren ein Buch: die Regel des heiligen Benedikt von Nursia. Ohne dieses Buch gäbe es das heutige Einsiedeln nicht. Im Vorwort dieser Regel schreibt unser Ordensgründer:
Deshalb sind uns die Tage des Lebens als Frist gewährt, damit wir uns von unseren Fehlern bessern, wie der Apostel sagt: «Weisst du nicht, dass Gottes Geduld dich zur Umkehr führt?» Denn in seiner Güte sagt der Herr: «Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er umkehrt und lebt!»
Sie müssen nicht Benediktiner oder Benediktinerin sein, um zu verstehen, dass mit diesen Worten Raum und Zeit geöffnet werden, damit wir Menschen uns entwickeln können. Und das Finden von Identität braucht Zeit. Zeit, die Algorithmen nicht haben. Und die Worte Benedikts wollen zum Leben führen: zum prallen Leben, zu einem Fest.
In dieser Tradition steht das diesjährige Welttheater Einsiedeln. Trotz oder gerade wegen seiner ernsten Fragestellungen und teilweise düsteren Bilder feiert das Spiel ein Fest! Ein Spielvolk spielt lustvoll Fragen an das Leben. Identität lassen wir uns heute Abend darum nicht einfach aufdrücken, sondern sie wird gespielt. Lasst uns «homines ludentes» sein, Menschen, die spielen und die im Spiel ihre Identität suchen, hinterfragen und sich Identität schenken lassen. Wenn dann am Ende die Frage kommt: «Wär soll itz mir mir spile?», dann müssten wir alle rufen: «Ich!», «Wir!». Ich freue mich auf den Moment, in dem über dieser Frage der volle Mond aufgeht. Dieser Mond, der schon so viel über dem Leben aufgegangen ist und uns sagt: Solange die Sonne mich bescheint und ich mir so meine Identität schenken lasse, geht das Spiel des Lebens weiter, ein Spiel mit Kindern, ein Spiel für die Hoffnung. Herzlichen Dank, dass Sie mitspielen.
Abt Urban Federer OSB