Diese Weisung des heiligen Benedikt hört sich zweifelsohne etwas ungesund an. Man kann seine Aufmerksamkeit nicht nur auf sich selbst fokussieren, indem man ängstlich darauf bedacht ist, ja keine Fehler zu machen oder dauernd Grossartiges zu leisten. Aber so verstehe ich diese Anweisung auch gar nicht. Benedikts Ziel ist es ja, einen Leitfaden zur Nachfolge Christi im Kloster zu formulieren. In einer Gemeinschaft muss man auf andere eingehen und mit ihnen auskommen. Zudem hat man für den Lebensunterhalt aller beizutragen. Gerade im Kontakt mit anderen Menschen ist es aber nicht immer leicht, so zu handeln, wie Jesus es vorgelebt hat.
Die Psychologin Prof. June Tangney meint, wer seine eigenen Stärken und Schwächen sowie die eigenen Leistungen und Grenzen richtig einschätzen kann, lernt auch, die Stärken und Schwächen anderer wahrzunehmen und deren Beitrag für die Welt anzuerkennen. In ihrer Forschungsarbeit hat sie festgestellt, dass Menschen, die über diese Fähigkeit verfügen, problemlos Fehler zugeben können, keine selbstdarstellerischen Tendenzen haben und das Bedürfnis nicht kennen, andere zu dominieren.
Sich selbst so gut kennenlernen kann man allerdings nur, wenn man ab und zu in aller Offenheit und Ehrlichkeit Rückschau auf Situationen oder Begegnungen hält, die vielleicht nicht so gut verlaufen sind, und sich überlegt, was man besser hätte machen können. Selbst Begebenheiten, die auf den ersten Blick vielleicht als grossartig erscheinen, können sich im aufmerksamen Rückblick als weniger eindrucksvoll erweisen.
Ich verstehe die Weisung Benedikts also so, dass sie uns sowohl vor Kleinmut als auch vor Überheblichkeit bewahrt, indem sie uns zu einem realistischen Bild von uns selbst verhilft. June Tangney nennt dies Demut.
Zur Autorin: Verena, Jg. 1967, ist selbständigerwerbend, Mutter dreier erwachsener Kinder und Oblatin des Klosters.