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Predigt von P. Patrick Weisser am Zweiten Fastensonntag 2025

„Eine Welt in einem Sandkorn sehen / Und einen Himmel in einer wilden Blume / Unendlichkeit in deiner Handfläche halten / Und Ewigkeit in einer Stunde.“ 

Dieses Gedicht von William Blake, einem englischen Dichter aus dem 19. Jh., ist auf Anhieb wohl kaum verständlich. Deshalb noch einmal der Text: „Eine Welt in einem Sandkorn sehen / Und einen Himmel in einer wilden Blume / Unendlichkeit in deiner Handfläche halten / Und Ewigkeit in einer Stunde.“ 

Kann man das, in einem Sandkorn eine Welt sehen, oder in einer Stunde die Ewigkeit erfahren?

Die vier Zeilen im Gedicht von William Blake sind paradoxe Formulierungen. Wörtlich genommen können wir sie nicht verstehen. Sie sind dann ganz einfach Unsinn. 

Wir Menschen von heute sind geschult, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist. Wir lernen zu zählen und zu berechnen, die Tatsachen zu beobachten und entsprechend zu handeln. Diese Fähigkeiten brauchen wir, um unseren Alltag bestehen und seine Probleme lösen zu können. Wir sind auf diese Fähigkeiten angewiesen. Deshalb können sie nicht einfach schlecht sein.

Wenn diese Fähigkeiten zu analysieren und zu berechnen aber alles sind, was wir gelernt haben, dann wird es eng. Wer nur noch beobachten, berechnen und Probleme lösen kann, wird in den Tatsachen des Alltags gefangen. Er kann nicht mehr sehen, als was gerade vor ihm liegt, und das ist zum Leben zu wenig. 

Ein solcher Mensch kann mit dem Gedicht von William Blake nichts anfangen. Er würde stattdessen schreiben: „Ein Sandkorn ist nur ein Sandkorn, nichts weiter. / Eine wilde Blume ist abends schon verwelkt. / Deine Handfläche ist begrenzt. / Und eine Stunde ist schnell vorbei.“

Es ist gut, wenn wir die Wirklichkeit als das sehen können, was sie ist. Es ist aber nicht mehr gut, wenn wir die Wirklichkeit gleich setzen mit dem, was wir von ihr zu sehen meinen.

„An einen Gott glauben heisst sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist.“ 

Diesen Satz schreibt Ludwig Wittgenstein im Sommer 1916 als Soldat an der Front im Ersten Weltkrieg, zu einer Zeit, in der es ihm nicht gut geht. „An einen Gott glauben heisst sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist.“ 
Wie kommt Wittgenstein an die Front, an diesen schrecklichen Ort? Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet er sich freiwillig für die Armee. Er tut das nicht aus Patriotismus, sondern weil er darum ringt, im Leben einen Sinn zu sehen. Er selbst schreibt es so: „Vielleicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens.“ (4.5.1916.)

„An einen Gott glauben heisst sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist.“ Die Tatsachen der Welt und unseres Lebens kennen, das ist wichtig. Wir kommen nicht an ihnen vorbei. Verheerend aber wäre es zu glauben, dass diese Tatsachen auch schon alles ist, was es gibt. 

Wir alle kennen Sorgen und Schwierigkeiten. Es geht im Leben scheinbar nicht ohne. Schlimm aber wird es dann, wenn wir nur noch diese Sorgen und Schwierigkeiten sehen und nicht mehr darüber hinaus.

Wie können wir sehen lernen, „dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist“? Wie können wir in einem Sandkorn eine Welt sehen lernen und den Himmel in einer wilden Blume? Wie können wir sehen lernen, dass sich hinter der Wirklichkeit und unserem Leben mehr verbirgt? 

“Staunen, sich verwundern, [von etwas] bezaubert sein” sind nach der italienischen Psychologin und Ordensfrau Anna Bissi für uns Menschen ganz grundlegende Gefühle, die es sich zu erwerben und zu schulen lohnt. Denn es geht dabei um „die Fähigkeit, die Schönheit zu erkennen in der Welt, in den Menschen, in Gott, und davon fasziniert zu sein, ohne sie an uns reissen oder für uns selbst behalten zu wollen“. (Bissi, Il battito, S. 163.)

Staunen, sich verwundern, von etwas bezaubert sein: So reagieren wir spontan, “wenn wir mit grosser Furcht plötzlich erkennen, dass die Wirklichkeit ein Mehr zeigt, einen Reichtum, den wir nicht erwartet haben”. (S. 163.)

So muss es den Jüngern ergangen sein, wenn sie plötzlich ahnten, dass in Jesus von Nazaret mehr gegenwärtig ist als nur ein Mensch mit guten Absichten und schönen Plänen. 

Man kann sich durchaus fragen, ob sich die Verklärung Jesu  geschichtlich tatsächlich so abgespielt hat, wie sie die Evangelien erzählen. Eines aber ist sicher: Die Jünger müssen immer wieder gespürt haben, dass in Jesus mehr ist, als es scheint. Sonst hätten sie für das Reich Gottes nicht ihr Leben einsetzen können.

Staunen, sich verwundern, von etwas bezaubert sein - „eine Welt in einem Sandkorn sehen / und einen Himmel in einer wilden Blume“ – ist das nicht blauäugig? Ist das nicht blosse Flucht vor der Wirklichkeit – wie bei Petrus, der drei Hütten bauen will, weil er die Mühe des Alltags scheut?

Im Christentum, im Evangelium von der Verklärung geht es nicht um eine Flucht vor der Wirklichkeit. Im Gegenteil. Auch im Gedicht vom William Blake und im Text von Ludwig Wittgenstein geht es nicht darum, vor der Wirklichkeit die Augen zu schliessen und sich in schöne Träume zu flüchten. 

Alle drei Texte leugnen ja die Wirklichkeit mit ihren auch unangenehmen Tatsachen nicht. Sie sehen sie deutlich – aber eben in einem anderen Licht, aus einer ganz anderen Perspektive.

Die Verklärung Jesu ist nicht einfach eine Traumstunde, eine kurze Erholung von der rauen Wirklichkeit. Denn die drei strahlenden Gestalten von Jesus, Mose und Elija sprechen ja ausgerechnet über Jesu Leiden und Tod: „Sie sprachen von seinem Ende, das sich in Jerusalem erfüllen sollte.“ (Lk 9,31.)

„Eine Welt in einem Sandkorn sehen / Und einen Himmel in einer wilden Blume / Unendlichkeit in deiner Handfläche halten / Und Ewigkeit in einer Stunde.“ 

Dieses Gedicht stand vor einiger Zeit auf der Todesanzeige einer jungen Frau, die auf einer Ferienreise tödlich verunfallt war.

„An einen Gott glauben heisst sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist.“ 

Amen.
 

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