Heute möchte ich einmal über etwas predigen, das wir so oft erwähnen, ohne es besonders zu beachten oder es als grösste Selbstverständlichkeit der Welt hinnehmen. Ich möchte zu Ihnen sprechen über die übliche Anrede, die wir in unseren Gottesdiensten und Predigten gebrauchen, über „Liebe Schwestern und Brüder“.
Wenn man einen Menschen sehr gern hat, dann möchte man irgendwann einmal auch seine Verwandtschaft kennen lernen. Im Markusevangelium ist das heute zum ersten Mal möglich. Vergessen wir nicht: der Evangelist Markus kennt keine Kindheitsgeschichte Jesu. Wer sein Evangelium von Anfang an durchliest, begegnet erst im 3. Kapitel der Verwandtschaft Jesu. Wir haben den Text vorhin als Evangelium gehört. Es ist keine gute Begegnung. Lassen Sie mich etwas ausholen.
Wo Jesus auftritt, strömen die Menschen zu Hunderten zusammen. Denn es hat sich herumgesprochen: er schenkt jedem Einzelnen seine persönliche Zuwendung und heilt ihn. Wir sind erst im 3. Kapitel. Und doch sind schon so viele Menschen geheilt worden: der Mann mit dem unreinen Geist in der Synagoge von Kafarnaum, die Schwiegermutter des Petrus, der Aussätzige, der Gelähmte, den man durchs Dach hinunterlässt, der Mann mit der verdorrten Hand in der Synagoge, und nicht zu vergessen die namenlosen Scharen von Kranken und Besessenen, die man am Abend vor Jesu Haustüre bringt. Er wendet sich jedem persönlich zu und schenkt ihm sein Heil. Das geht so weit, dass er und seine Jünger vor lauter heilender Seelsorge nicht mehr zum Essen kommen.
Das muss seiner Verwandtschaft zu Ohren gekommen sein. Jetzt kommen sie und sagen: „Das ist doch nicht mehr normal. Den müssen wir heimholen. Der hat doch durchgedreht. Der ist ein Spinner!“ Das muss wehtun! Auf beiden Seiten, vor allem bei Jesus und seiner Mutter Maria!
Jesus hat es vorausgesagt. „Wenn jemand sich ganz auf mich einlässt, wenn jemand mein Jünger werden will, ein richtiger Jünger, nicht bloss ein Mitläufer, dann muss er damit rechnen, dass es Risse geben kann bis in seine Familie hinein.“ Vater gegen Sohn, Tochter gegen Mutter, Schwiegersohn gegen Schwiegervater, Onkel gegen Neffe, Nichte gegen Tante, und so weiter und so fort. Das gibt es auch heute. Da muss ein Ehepartner seinen Glauben leben gegen den Widerstand seiner Partnerin oder umgekehrt. Da leben Eltern ihren Glauben und werden von ihren Kindern verspottet. „Hört doch endlich auf mit diesem alten Quatsch!“ Jesus hat das auch erlebt. Seine Mutter und seine Brüder kamen und blieben draussen stehen, um ihn mit Gewalt zurückzuholen. Stellen Sie sich das vor! Unerhört! Im griechischen Urtext stehen zwei harte Worte, die unglaublich sind. Sie blieben draussen stehen. „Draussen“ - exo – draussen vor der Türe natürlich – aber auch draussen, nicht dazugehörend. Judas ging nach draussen, als er den Bissen genommen hatte und gehörte seither nicht mehr dazu. Und das andere Wort: Sie kamen, um ihn mit „mit Gewalt zurückzuholen“ – kratäsai – die Hohenpriester und Schriftgelehrten werden Jesus in der Nacht zum Karfreitag mit Gewalt zurückholen, um ihn zu töten.
Und was macht Jesus? Er schaut die vielen Leute, die um ihn herumsitzen, der Reihe nach an und sagt „Das hier, das sind meine Mutter und meine Brüder“. Wenn jemand sich auf Jesus einlässt, wird er erleben, dass seine familiären Bindungen zweitrangig werden, eventuell sogar kaputt gehen. Jesus schenkt eine neue, eine geistliche Familie. Das gilt bis auf den heutigen Tag. Darum kann ich Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, auch anreden mit „Liebe Schwestern und Brüder“. Wir gehören zur geistlichen Familie, die Jesus schenkt, weil wir miteinander Gottesdienst feiern, weil wir uns gemeinsam auf Jesus ausrichten.
Diese geistliche Familie unter Christen gibt es seit der Urkirche. Lesen Sie die Paulusbriefe. Drei Stellen daraus will ich nennen. Am Schluss seines Briefes an die Gemeinde in Rom hängt er eine lange Grussliste an. Ein Satz fällt besonders auf: „Grüsst Rufus und grüsst seine Mutter, die auch mir zur Mutter geworden ist“. Sie hat ihn offenbar im guten Sinne bemuttert (Röm 16,13).
Im Brief an die Gemeinde in Philippi spricht er von Timotheus, seinem jungen Mitarbeiter. „Wie ein Kind dem Vater – so hat er mit mir zusammen dem Evangelium gedient“ (Phil 2,22).
Dem Grossgrundbesitzer Philemon ist der Sklave Onesimus abgehauen. Der kommt zu Paulus und bekehrt sich bei ihm. Paulus schickt ihn zu Philemon zurück, Zitat „damit du ihn für ewig zurückerhältst, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder“ (Phil 15f). Philemon bleibt Grossgrundbesitzer und Onesimus bleibt Sklave. Aber die sozialen Unterschiede sind auf einer höheren Ebene aufgehoben. In der geistlichen Familie, die Jesus schenkt, sind sie Brüder, Bruder Philemon, der Grossgrundbesitzer, und Bruder Onesimus, der Sklave.
Auch in unserem Gottesdienst gibt es die unterschiedlichsten Menschen, einen Bankdirektor neben einem Mann, der auf unserem Klosterplatz Pflastersteine legt – bekannte Politiker neben einfachsten Arbeitern. Gemeinsam loben sie Gott und sind Brüder in der geistlichen Familie, die Jesus schenkt.
Wenn sich Menschen ganz auf Jesus ausrichten, dann verschwinden auch die Gegensätze zwischen den Konfessionen. „Verschwinden“ ist vielleicht das falsche Wort; die Gegensätze bleiben natürlich, aber sie trennen nicht mehr. Katholiken und Reformierte, Freikirchler und Altkatholiken loben den gleichen Gott, lesen in der gleichen Bibel und gehören zur geistlichen Familie, sind untereinander Brüder und Schwestern. Ich frage Sie: Tut das nicht gut?
In unserer Kirche bröckelt in letzter Zeit ganz vieles ab. Fast täglich hören oder lesen wir wieder etwas. Das macht uns traurig und lähmt uns. Wenn wir die Geschwisterlichkeit – das ist übrigens ein Lieblingswort unseres Papstes - wirklich ernst nehmen und sie auch täglich leben, dann haben wir die ganz grosse Chance, nicht bloss unsere abbröckelnde Kirche zu erneuern, sondern auch ein starkes Zeichen für die Welt zu sein. Wenn wir uns gemeinsam auf Jesus ausrichten, dann werden wir eine geistliche Familie von Brüdern und Schwestern und dann habe ich auch wirklich allen Grund, Sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, als „Liebe Schwestern und Brüder“ anzureden. Und ganz zum Schluss: Denken Sie daran, die Geschwisterlichkeit hört nicht beim Hinausgehen aus dem Sonntagsgottesdienst auf, sondern dann beginnt sie erst recht.
Amen.