Liebe Schwestern und Brüdern im Herrn!
Heute überschneiden sich mehrere Anlässe. Es beginnt das neue Kalenderjahr, wir feiern Maria mit dem Titel «Gottesmutter» und seit 57 Jahren begehen wir am 1. Januar auch den Weltfriedenstag. Wir haben also drei verschiedene Themen, über die wir nachdenken können.
Mit meiner Predigt möchte ich mich auf das Thema des Friedens konzentrieren. Denn es ist ein wichtiges Thema, besonders während dieses Heiligen Jahres, das unter dem Motto «Pilger der Hoffnung» steht. In einer von so vielen Konflikten zerrissenen Welt sind wir Christen aufgerufen, Hoffnungsträger zu sein. Wir glauben, dass Frieden möglich ist, und sind aufgefordert, unseren Beitrag zu leisten.
Ich beginne meine Ausführungen mit dem letzten Satz aus dem heutigen Evangelium: «Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus» (Lk 2,21). Die Namensgebung, eine Person beim Namen zu rufen, ist keine Nebensache. Es geht nicht bloss um eine praktische Angelegenheit. Es geht nicht nur darum, eine Person von einer anderen unterscheiden zu können. Selbst Haustieren geben wir einen Namen, weil sie uns etwas bedeuten und wir emotional mit ihnen verbunden sind. Einem Menschen einen Namen zu geben, ihn bei seinem Namen zu rufen, bedeutet, seine Identität, seine Eigenart und seine Würde anzuerkennen.
Nicht umsonst wurden in den Konzentrationslagern des Deutschen Reiches und in den sowjetischen Gulags die Namen der Häftlinge durch Nummern ersetzt. Jeder Häftling erhielt bei der Aufnahme eine Nummer und von da an wurde er nur noch mit dieser Nummer angesprochen. Die Absicht dieser Praxis war klar: Man wollte die Häftlinge entmenschlichen.
Auch Kriege entmenschlichen den Menschen. Lesen Sie z.B. die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine aufmerksam! Der Schwerpunkt liegt nicht so sehr auf dem Verlust von Menschenleben als vielmehr auf der Eroberung oder dem Verlust von Boden durch die eine oder andere Seite. Die menschliche Tragödie, die sich abspielt, scheint irrelevant zu sein. Für die Machthaber sind die Soldaten nichts anderes als Zahlen; Zahlen, die benötigt werden, damit die Kriegsmaschinerie funktioniert. Taktische und strategische Ziele sind für sie viel wichtiger als das Leben vieler Menschen.
Für uns Christen darf es aber nicht so sein. Jeder Mensch hat seinen eigenen Namen, seine Eigenart und seine Würde, die es zu respektieren und zu ehren gilt. Das müssen wir lernen und im täglichen Leben umsetzen. Die Würde jeder Person anerkennen: Das muss unsere erste Haltung gegenüber jedem Menschen sein, dem wir begegnen.
Dafür gibt es einen wichtigen Grund, den wir uns zu Herzen nehmen müssen: Jesus hat uns einen neuen Namen Gottes offenbart. Das verkündet uns der heilige Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Galatien: «Gott sandte den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, den Geist, der ruft: Abba, Vater!» (Gal 4,6). Und es ist Jesus selbst, der uns im Gebet lehrt, Gott als Vater anzurufen, und zwar nicht als «Mein Vater», sondern als «Unser Vater». Wie oft beten wir das Vaterunser bewusst? Meinen wir es ernst, wenn wir vor der Kommunion das Vaterunser beten? Der Friede braucht diese Fähigkeit, Gott mit dem Namen «Vater» anzurufen, als unseren Vater, als Vater von allen. Gott mit dem Namen «Vater» anzurufen, bedeutet, dass wir uns alle als Brüder und Schwestern verstehen, nicht nur wir Christen unter uns, die wir auf den Namen Jesu getauft sind, sondern unter allen Menschen, selbst wenn sie unseren Glauben nicht teilen und Gott noch nicht als Vater kennen gelernt haben, selbst dann wenn sie gar nicht an Gott glauben. Denn schliesslich will Gott der Vater aller sein.
Jeder Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit und gegen Gott, denn durch den Krieg verweigern wir ihm seinen wahrhaftigsten Namen und seine grösste Freude, nämlich Vater zu sein, Vater aller zu sein, denn er ist der «Vater, von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde seinen Namen hat” (Eph 3,14).
Wir lästern den Namen Gottes, jedes Mal, wenn wir ihm den Namen «Vater» absprechen. Und leider tun wir das allzu oft … nicht nur in grossen Konflikten, sondern auch in alltäglichen Situationen: Jedes Mal, wenn wir einen Menschen nicht in seiner Identität, Eigenart und Würde respektieren. Wann immer wir eine Person nicht als Schwester oder Bruder willkommen heissen, leugnen und lästern wir den wahren und schönsten Namen Gottes. In vielen Situationen des Alltags haben wir die Wahl, den Namen Gottes zu ehren oder ihn zu lästern.
Liebe Schwestern und Brüder!
Das Heilige Jahr fordert uns auf, Pilger der Hoffnung zu sein. Wir wollen in diese von Gewalt und Kriegen zerrissene Welt die Hoffnung bringen, dass Frieden möglich ist. Wenn wir das wirklich wollen, dann müssen wir in jeder Situation und überall die Würde jedes Menschen respektieren. Ohne diese Grundhaltung kann es keinen Frieden geben.
Der Friede muss bei uns selbst beginnen, in unserer unmittelbaren Umgebung, dort, wo wir leben, in unserer Klostergemeinschaft, in unseren Familien, an unserem Arbeitsplatz, sogar mitten im Strassenverkehr.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Friede sowohl ein Geschenk Gottes als auch eine Aufgabe für uns Menschen ist. «Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden» (Mt 5,9). Amen!