Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Ich weiss nicht, ob es nur ein Zufall oder doch eine Fügung des Heiligen Geistes war, dass unser Papst Leo zwischen dem dritten und vierten Ostersonntag gewählt wurde.
Wo am vergangenen Sonntag die lange Fassung verkündet wurde, endete das Evangelium mit dem berührenden Gespräch zwischen Jesus und Petrus. Während dieses Gesprächs am See von Tiberias hatte Jesus dem Apostel Petrus den Hirtendienst für die ganze Kirche anvertraut. «Weide meine Lämmer … Weide meine Schafe» - sagte ihm Jesus (vgl. Joh 21,15–17).
Heute, am vierten Ostersonntag, ist der so genannte Sonntag des «Guten Hirten», weil jedes Jahr an diesem Sonntag ein Abschnitt aus einer langen Rede Jesu verkündet wird, in der sich Jesus mit einem guten Hirten vergleicht. Indirekt gibt er auch wertvolle Empfehlungen, wie Seelsorger und Seelsorgerinnen sein sollen.
Nota bene: Es geht nicht so sehr um die Frage, was ein Seelsorger tun kann und wozu er fähig ist, sondern wie er sein soll.
Der gute Hirt sorgt sich um seine Herde. Ihm ist jedes einzelne Schaf wichtig und er tut seine Arbeit im Geiste der Selbsthingabe. Weil Jesus der gute Hirt ist, lädt uns die Kirche heute ein, in den Schafstall des auferstandenen Christus einzutreten und Jesus als unseren Hirten anzunehmen.
Um in diesen Schafstall einzutreten, muss man nicht makellos sein. Jesus kennt unsere Situation und weiss, dass wir seine heilende Kraft brauchen. Die Wunden unserer Sünden sollten kein Grund zur Entmutigung sein. Sie sind kein Hindernis, das uns den Weg zu Jesus versperrt. Vielmehr sind gerade diese Wunden, die uns anspornen, Jesus aufzusuchen und ihm unser volles Vertrauen zu schenken. Denn er ist der gute Hirt, der das verletzte Schaf heilt und sich auf die Suche nach dem verlorenen macht.
«Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe» (Joh 10,11). Mit dieser kurzen Aussage gibt uns Jesus ein Werkzeug in die Hand, um zu verstehen, wer ein guter Hirt sein kann. Jesus gibt ein sicheres Auswahlkriterium, wenn es darum geht, jemanden mit einem Amt oder einer Führungsaufgabe in der Kirche zu betrauen. Ein guter Hirt ist jemand, der sich um die ihm anvertrauten Seelen sorgt. Diese Aufgabe ist für ihn, den guten Hirten, das Wichtigste.
Zwischen dem guten Hirten und den ihm anvertrauten Schafen besteht eine enge Beziehung: Er kennt sie einzeln, verbringt Zeit mit ihnen, erkennt ihre Stimme, den Klang ihrer Schritte ... Der gute Hirt lässt seine Schafe nie im Stich, denn er lebt mitten unter ihnen und die Schafe sind Teil seines Lebens. Für den guten Hirten bedeutet der Verlust eines Schafes den Verlust eines Teils von sich selbst. Das ist bei einem bezahlten Knecht nicht der Fall, denn er ist nicht wirklich ein Hirt, er macht einfach die Arbeit des Hirten; er macht diese Arbeit, einfach um Geld zu verdienen. Für den bezahlten Knecht sind Schafe nur eine Einnahmequelle, weshalb er niemals bereit wäre, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um die Schafe vor einer drohenden Gefahr zu retten.
Stattdessen betont Jesus, dass er sein Leben für die Schafe hingibt. Die Hingabe des eigenen Lebens ist ein Akt der Freiheit und der wahren Liebe, wie Jesus selbst einmal sagte: «Niemand entreisst mir das Leben, sondern ich gebe es von mir aus hin» (Joh 10,18). Seine Auferstehung lehrt uns, dass es sich lohnt, sich von dieser Liebe erobern zu lassen, denn Liebe bis zur Selbsthingabe bedeutet Leben … ewiges Leben, gemäss den Worten Jesu: «Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen» (Joh 10,18).
Am heutigen Sonntag wollen wir Gott besonders darum bitten, dass wir immer innerhalb der Kirche die Fürsorge des Guten Hirten erfahren können. Die Ausübung dieser pastoralen Fürsorge ist eine ganz besondere Aufgabe der kirchlichen Amtsträger, in erster Linie des Papstes, der ein Vorbild für alle Seelsorger und Seelsorgerinnen sein muss.
Aber nicht nur die Amtsträger, sondern viele, sehr viele Christinnen und Christen müssen in irgendeiner Weise Hirten sein; manche als Eltern für ihre Kinder, manche als Patinnen oder Paten, manche als Lehrerinnen für ihre Schüler ... Auf jeden Fall sind wir alle dazu berufen, anderen durch Beispiel, Gebet und Rat zu helfen. Wir alle, ob Amtsträger oder nicht, sind Schafe und Hirten zugleich.
Um ein guter Hirt zu sein, muss man Jesus nachahmen, wenn er dient, heilt, begleitet, zuhört.... und auch, wenn er sein Leben für andere mit grösster Selbstlosigkeit hingibt. Die anderen sind kein Mittel zu einem Zweck, so edel dieser Zweck auch sein mag. Das wäre die Haltung des bezahlten Knechtes, dem an den Schafen nichts liegt. Der bezahlte Knecht denkt nur an den Nutzen, den er aus den Schafen ziehen kann.
Der gute Hirt sieht hingegen jeden Menschen mit den Augen Gottes. Mit Freude und grösster Selbstverständlichkeit macht er sich zum Diener aller, so wie Jesus es getan hat. Das schafft aufrichtiges Vertrauen bei den anderen: Sie wollen sich dem Hirten nähern, weil sie wissen, dass er ihr Wohl sucht.
Bedeutet aber die Aufgabe eines Hirten nur Verzicht? Nein! Für den guten Hirten bedeutet die Selbsthingabe grosse Freude, denn er freut sich, wenn die anderen sich freuen können. Und er wird auch am Ende reichlich belohnt, wie uns Petrus in seinem ersten Brief versichert: «Wenn dann der oberste Hirt erscheint, werdet ihr den nie verwelkenden Kranz der Herrlichkeit empfangen» (1 Ptr 5,4).
Beten wir für unseren neu gewählten Papst Leo. Möge Gott ihm bei diesem sehr anspruchsvollen Liebesdienst beistehen. Und möge Papst Leo auch Freude daran erfahren, sein ganzes Leben zum Wohl der Kirche und der ganzen Welt hinzugeben. Amen!