Pater Alois Kurmann
P. Alois Kurmann verstarb am 29. September in der Folge eines operativen Eingriffs am Herzen, von dem er sich wieder etwas mehr «Lebensenergie» erhoffte, die durch eine «Müdigkeit», die P. Alois in den letzten beiden Jahren immer wieder beklagte, doch sehr gehemmt war. Ja, er freute sich geradezu darauf, wieder kleine Wanderungen unternehmen zu können. Wie wir inzwischen wissen, kam es anders: Statt des Anrufs, P. Alois wieder von der Klinik abholen zu können, ereilte uns ganz unerwartet die Todesnachricht. Diese ging vielen Menschen sehr nahe, wie die grosse Anteilnahme anlässlich seiner Beerdigung zeigte.
«Es war in der Nacht vor einer lebensentscheidenden Operation. Ich lag, an Schläuche angeschlossen, in schweissfeuchten Kissen und starrte gebannt ins Dunkel. Dort, durch die breite Tür, würden sie mich morgen hinausrollen und im Warenlift in die Tiefe fahren, in den OP-Saal. Last exit? Eine Reise ohne Wiederkehr? Meine Finger waren ins Laken gekrallt, das Herz klopfte bis zum Hals […].»[1]
Diese Worte stammen nicht von P. Alois. Aber P. Alois hat sie gelesen, genau einen Tag vor seiner eigenen Operation. Sie standen in der «Neuen Zürcher Zeitung» auf der letzten Seite, geschrieben vom bekannten Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann. Seine eigene Gefühlslage dürften diese Worte, soweit sie eben zitiert wurden, kaum ausdrücken. Andererseits können und wollen wir eine vielleicht leise Vorahnung, dass seine eigene Operation «eine Reise ohne Wiederkehr» sein könnte, auch nicht ganz ausschliessen. Wir werden auf die Worte von Thomas Hürlimann noch zurückkommen.
Zunächst aber öffnete sich für Alois nicht die Tür in einen Operationssaal, sondern die Tür ins Leben. Das war am 17. November 1943. An diesem Tag wurde dem Ehepaar Alois und Anna Kurmann-Schmid ein Knabe geschenkt, den sie auf den Namen Anton Alois taufen liessen. Drei Jahre später kam noch ein Bruder dazu, mit dem zusammen Alois in Rohrmatt bei Willisau aufwuchs. Schon sehr früh begann sich in seinem Leben eine weitere Tür zu öffnen, durch die er später hindurchgehen sollte. Hören wir, was P. Alois selbst rückblickend dazu berichtet:
«Als ich noch nicht in die Schule ging, fragte mich der Pfarrhelfer unserer Pfarrei: ‘Was möchtest Du einst werden?’ Ich sagte. ‘Das, was Du bist!’ [… ] Als ich in der fünften Klasse der Primarschule war, sagte mir [derselbe Pfarrhelfer] bei einem Schulbesuch: ‘Du musst in die Mittelschule’.»
Der damalige Pfarrhelfer von Willisau erkannte offenbar ein gewisses Talent des jungen Schülers und wies ihm so eine Tür, die Alois von sich aus wohl kaum gefunden hätte. Alois trat ein. An der Mittelschule, dem Progymnasium, eröffnete sich Alois vor allem die Welt der Alten Sprachen und der Deutschen Literatur. Alles andere interessierte ihn nicht.
«Ich lief Gefahr, so richtig intellektuell-unpraktisch zu werden. Ich habe es damals keineswegs eingesehen, aber jetzt ist es mir klar und die Menschen, die mich damals näher kannten, bestätigen es mir.»
So schätzte der Frater Novize Alois seine Situation als junger Mönch im Kloster ein. Auf die Mittelschule folgte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln. Hier trat Alois 1960 in die fünfte Klasse ein. Er war nach eigenen Worten ein schüchterner und verschlossener Jugendlicher, ein Einzelgänger. Seine Welt waren die Bücher. Das Gemeinschaftsleben im Internat bereitete ihm grosse Mühe. Er hatte Heimweh und dachte oft daran, davonzulaufen. Durch die Erfahrung echter Freundschaften ab der sechsten Klasse vollzog sich jedoch allmählich ein Wandel, der in der siebten Klasse Früchte zeitigte:
«Ich suchte jetzt plötzlich Menschen, mit denen ich reden konnte. Ich habe nicht Gesellschaft gewollt, nicht die Masse, sondern den einzelnen Menschen. Und ich habe viele gefunden, die mir zusagten, und denen ich vielleicht auch etwas bieten konnte».
Aber auch der grossen Schar jener Menschen gegenüber, die nicht zu seinen näheren Freunden zählten, änderte Alois von nun an seine Gesinnung.
«Ich habe mich bemüht, sie zu lieben; weil ich es mit dem Gefühl keineswegs konnte, habe ich es in der Tat versucht; ich habe ihnen geholfen wie ich konnte […]. Ich habe mich bemüht, es nicht um des Ruhmes willen zu tun, sondern wie Christus uns befiehlt.»
Offensichtlich braucht man einen Menschen nicht gern zu haben, um ihn zu lieben! Vielleicht war es diese zutiefst christliche Haltung, die ihn an eine weitere Tür führte, durch die er hindurchgehen sollte: Die Tür ins Kloster. Durch diese ging er am 29. August 1964, zur Freude seiner Mutter, zum Entsetzen aber seines Vaters: «Du verlierst deine Freiheit!», meinte dieser. Alois aber setzte sich durch mit der klaren Vision, zur Ehre Gottes durch Wissenschaft und Leben den Menschen zu helfen. Er war überzeugt, dies als Mönch am ehesten tun zu können.
Den Raum hinter der Tür ins Kloster empfand Alois zunächst als eng: «Das Jahr des Noviziates war eine Qual, voll Kleinlichkeit, Leerlauf, intellektueller Kleinkrämerei», schrieb er rückblickend. Aber er hielt durch und legte am 8. September 1965 die monastischen Gelübde der Beständigkeit, des klösterlichen Lebenswandels und des Gehorsams für die Dauer von drei Jahren ab, um sie nach diesen drei Jahren für sein ganzes restliches Leben zu versprechen. Sein Taufname wurde auch Professname. Am 19. Juli 1969 weihte ihn der frühere Einsiedler Abt und nunmehrige Kardinal Benno Gut zum Priester.
Der Raum hinter der Tür ins Kloster mag für P. Alois eng gewesen sein. Aber er war nicht ohne weitere Türen. Eine solche öffnete sich bereits zwei Jahre nach seinem Klostereintritt: Mit dem Ziel, später an der klostereigenen Theologischen Schule zu unterrichten, sollte er in Rom Bibelwissenschaft studieren. P. Alois erzählte selten ohne Rührung von dieser erhebenden Studienzeit kurz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Doch diese Tür wurde nach Abschluss des Lizentiates abrupt wieder geschlossen: Da die Zukunft der Theologischen Schule unsicher war, wollte man lieber in die Stiftsschule investieren. P. Alois sollte in Fribourg Romanistik und Anglistik studieren. Doch er spürte, dass er das weder wollte noch konnte und zeigte dies seinem Abt auch an. So brach er das Studium nach nur einem Semester bereits wieder ab und kam zurück nach Einsiedeln.
Hier unterrichtete er für vier Jahre probehalber an der Stiftsschule Latein, Griechisch, Französisch, Italienisch und Religion in den unteren Klassen. Die Tür zur Stiftsschule begann sich aufzutun, und er konnte sich vorstellen, durch sie einzutreten und Gymnasiallehrer zu werden. In der Folge schrieb sich P. Alois 1977 als Student der Klassischen Philologie an der Universität Zürich ein. Nach dem Lizentiat und einer Assistenzstelle promovierte P. Alois schliesslich am 14. Februar 1986 mit einer Dissertation über Gregor von Nazianz – mit inzwischen fast 43 Jahren! Über den Altphilologenverband unterhielt P. Alois auch über die Studienzeit hinaus viele Kontakte mit anderen Kennern der Alten Sprachen. 1987 wurde er in den Vorstand gewählt, für zwei Jahre (1994 bis 1996) hatte er gar den Vorsitz.
Spätestens jetzt wurde P. Alois nun selbst für viele Menschen zu einem Türöffner ins Leben. Dies zunächst für die jungen Leute an unserer Schule, wo P. Alois während 25 Jahren Latein und Griechisch unterrichtete. Rund zehn Jahre lang war er auch Präfekt des Internates, und 1989 wurde er der erste Prorektor unserer Schule. Mit vielen seiner Schülerinnen und Schüler blieb P. Alois auch über deren Schulzeit hinaus verbunden. Bis zu seinem Tod war er noch zuständig für das Personalverzeichnis: Er erkundigte sich nach dem Werdegang ehemaliger Stiftsschüler, notierte Hochzeiten, Geburten und natürlich auch, wenn sich für jemanden die Tür des irdischen Lebens schloss. Eine gute Verbindung des Gymnasiums zur Universität war ihm wichtig. So war er Mitglied einer entsprechenden Kommission, die er ab dem Jahr 2000 ebenfalls eine Zeit lang präsidierte.
Ein Türöffner wurde P. Alois auch für Frauen und Männer, die sich theologisch aus- und weiterbilden liessen. Seit 1980 leitete er periodisch Teile des Glaubenskurses der deutschsprachigen, interdiözesanen Organisation «Theologiekurse». Den Absolventen versuchte P. Alois insbesondere die Schriften des Neuen Testaments zu erschliessen. Das Studium in Rom blieb also nicht ohne Nutzen.
Das Neue Testament: Es ist Wort Gottes – auch und gerade für P. Alois. Gottes Wort anderen Menschen zu erschliessen geschah bei ihm nicht nur durch blosses Unterrichten, sondern auch – und nicht zuletzt! – durch die Seelsorge. An den Sonntagen nahm P. Alois praktisch immer Gottesdienstvertretungen wahr: In Pfarreien, in Klöstern, auf Alpen. Auch in seiner Willisauer Heimat und in Fühli im Entlebuch, der Heimat seiner Mutter, war er oft anzutreffen. Auch im Kloster hatte für P. Alois der seelsorgerliche Dienst am Menschen hohe Priorität: In der Beichte, in Gesprächen, für die P. Alois nach Möglichkeit immer zur Stelle war, wenn jemand darum bat. Er schien seinen Vorsatz aus den ersten Klosterjahren nicht vergessen zu haben: «Jeder, der von mir etwas will, soll sicher sein, dass ich ihm nach Möglichkeit helfe.»
Hier haben wir es wieder: Liebe durch die Tat. Dafür gibt es im Lateinischen einen Begriff (und niemand wusste das besser als P. Alois); ein Begriff, der auch dem heiligen Benedikt in diesem Zusammenhang bestens bekannt war: «Caritas». Was P. Alois praktisch zu leben versuchte, durfte er auch in die Organisation der Caritas Schweiz während zweier Amtsperioden in Vertretung des Klosters als Vorstandsmitglied einbringen.
Am Freitag, dem 29. September, öffnete sich P. Alois eine letzte Tür: Die Tür in den Operationsraum. Ja, es war «last exit», eine Reise ohne Wiederkehr. Wir erinnern uns an die zu Beginn zitierten Worte von Thomas Hürlimann, die P. Alois einen Tag vor seinem Tod gelesen hatte:
«Meine Finger waren ins Laken gekrallt, das Herz klopfte bis zum Hals – und sonderbar, auf einmal wurde ich ruhig. Wie es geschah, weiss ich nicht, ich kann nur sagen, dass es geschah. Es. Es geschah. Es vollzog sich. Das Krankenzimmer war auf einmal der Saal eines Museums, und das einzige Bild stellte in vollendeter Schönheit eine Tür dar. Es war die Tür, die ich eben noch angestarrt hatte, allerdings schloss sie mich nicht mehr in die Enge meiner Angst ein, sondern eröffnete mir einen unbekannten Raum. Es überkam mich ein Glück [… und] ich wusste: Du hast gewonnen, so oder so. Entweder wirst du nach der OP […] zurückkehren, oder hinter der Tür der Türen empfängt dich das Zeitlose.»
«Das Zeitlose»: Für P. Alois hatte es ein Gesicht. Jesus Christus, Gottes Wort. Er ist die Tür zum Ewigen Leben. Dieses dürfen wir für P. Alois erhoffen. Mögen wir es dabei auch selbst aus tiefstem Herzen ersehnen!
6. Oktober 2023
P. Daniel Emmenegger
[1] Thomas Hürlimann, Ein Bündel Dollarscheine aus der Bibel, in: NZZ, 28. September 2023, S. 32.