Salve 5/2024

Die Zeitschrift der Klöster Einsiedeln und Fahr salveKloster Welt Begegnung 26 Lichtschein im Dunkeln Erzählungen von Licht und Schatten in den bewegten Leben von Heiligen. 22 Nachtschwärmer Wenn alles schläft: Vier Menschen erzählen von ihren nächtlichen Aufgaben. 6 Heilige Nächte Die Klosterkirche Einsiedeln zieren gleich drei Fresken mit nächtlichen Szenen. 16 Traumbotschaften Im Interview erläutert Pater Mauritius Honegger die Bedeutung der Nacht in der Bibel. 5/2024 Nacht

Titelbild: Das Sakristaninnen-Team Schwester Andrea Felder (links), Schwester Franziska Bernhardsgrütter (Mitte) und Schwester Matthäa Wismer (rechts) aus dem Kloster Fahr INHALT EDITORIAL Abt Urban Federer Priorin Irene Gassmann 5 RUNDGANG Heilige Nächte Frater Meinrad Maria Hötzel über die Fresken in der Klosterkirche Einsiedeln 6 POESIE «Gott hat sich klein gemacht» Silja Walter setzte sich in ihrer Poesie und Lyrik viel mit dem Thema Nacht auseinander. 12 MOMENTUM Licht 15 INTERVIEW Traumbotschaften in der tiefen Dunkelheit Im Gespräch erzählt Pater Mauritius Honegger von der Bedeutung der Nacht in der Bibel. 16 AUFENTHALT Mit Pferden zurück ins Licht Die Propstei St. Gerold bietet besondere Erholungsaufenthalte nach einem Unglück. 20 EINBLICKE Nachtschwärmer Wer wechselt das Kleid der Madonna? Kurzporträts von Menschen, die ihren Aufgaben des Nachts nachgehen. 22 PERSPEKTIVE «Die Dunkelheit lässt das Licht heller scheinen» Pater Philipp Steiner erzählt von Heiligen, die dunkle Nacht durchlitten haben. 26 AUSFLUG Königinnen der Nacht Klöster und Kirchen als einer der letzten Zufluchtsorte für bedrohte Fledermäuse 28 REGULA «Wie die Mönche schlafen sollen» Pater Christoph Müller 31 GASTBEITRÄGE 32 TABULA 38 IMPRESSUM 50 salve 5/2024 Nacht Das Kloster Fahr in der Abenddämmerung während der Vesper

4 salve 5/2024 Nacht Die Nacht ist mehr als das Ende des Tages – sie ist ein heiliger Raum, in dem das Kloster in die Stille Gottes eintaucht. Das gemeinsame Schweigen wird zu einem Ort des Loslassens und Vertrauens. Denn unter dem schwarzen Himmelsgewölbe wird die Seele frei, sich dem Schöpfer zuzuwenden – und die Dunkelheit lädt dazu ein, das innere Licht zu entdecken. Und dann, während die Welt noch schläft, erhebt sich die Gemeinschaft bereits zum ersten Gebet und hält Wache; ein Zeichen des Wartens auf den ewigen Morgen.

5 salve 5/2024 In Einsiedeln war es einst ziemlich dunkel, dem Licht musste Raum geschaffen werden. Als 934 der erste Abt Eberhard neben der Zelle des heiligen Meinrad ein Kloster gründete, liess er dafür Wald roden. Für das Kloster entstand eine Lichtung – Licht wurde in den «Finstern Wald» gebracht. Die Gegend heisst heute noch so. Der barocke Neubau der Klosterkirche ist keine lichte Festhalle, sondern ein eher dunkler Raum, der das Licht von oben her in den Raum bringt. Im Kircheninnern in der Weihnachtskuppel erkennen wir das Licht des menschgewordenen Gottes in der Weihnachtsnacht. In der Abendmahlskuppel bringt das geteilte Brot das Licht in die Nacht vor dem Karfreitag. Über der Gnadenkapelle ist die nächtliche Vision von Bischof Konrad von Konstanz dargestellt – die sogenannte Engelweihe. Er sieht, wie in Einsiedeln ein ewiges Licht angezündet ist: Christus ist dort, wo Menschen ihre Nacht hinhalten, wo sie in der Nacht ihres Lebens dennoch eine Sehnsucht nach Licht haben. Die Engelweihe zeigt die Gegenwart Gottes in unserer Nacht. In der bildstarken Titelgeschichte deutet Frater Meinrad Hötzel diese drei kunstvollen Nachtfresken spirituell. In dieser Ausgabe von salve befassen wir uns mit der Nacht. Für den heiligen Benedikt und die frühen Mönche war die Nacht eine bevorzugte Zeit für das Gebet. In der Nacht ist es still, die Gedanken sind gesammelt, die Augen werden nicht durch Tagbilder abgelenkt. So entstanden im benediktinischen Rhythmus die Vigilien (Nachtwache). Die verstorbene Dichterin und Nonne Silja Walter hat eine Fülle von Nachtgedichten verfasst. Im Gebet des Klosters am Rand der Stadt schreibt sie: «Wachen ist unser Dienst. Wachen. Auch für die Welt. Sie ist oft so leichtsinnig, läuft draussen herum und nachts ist sie auch nicht zu Hause.» Wachen für die Welt. Das kann auch im übertragenen Sinn verstanden werden. Wachen im Gebet, das heisst mit Menschen verbunden sein, die gerade «Nacht» erleben wie Trauer, Schmerz, Verlust und Angst. Nacht, Schlaf und Träume treten auch in der Bibel zutage. Pater Mauritius Honegger verrät uns im Gespräch, wie sie dargestellt werden und welche symbolische Bedeutung sie tragen. Im übertragenen Sinn steht die Nacht als Symbol für schwere Stunden. Pater Philipp Steiner berichtet von Heiligen, die strahlen, gerade weil sie die dunkle Nacht durchlebt haben. Dabei stossen wir unter anderem auf den spanischen Dichter und Mystiker Johannes von Kreuz (1542–1591): «Wohl kenne ich den Quell, der rinnt und fliesset, wenn es auch Nacht ist.» Auch in der geistlichen Nacht «weiss» er, dass die Quelle des Lebens da ist und für ihn fliesst. Er erahnt das Licht in seinem Leben, auch wenn es Nacht ist. Im Bericht über begleitete und unterstützte Erholungsaufenthalte in der Propstei St. Gerold begegnen wir Menschen, die dort nach dunklen Stunden wieder Kraft schöpfen können. Und wer ist eigentlich in den Nachtstunden im Kloster Einsiedeln unterwegs? Unsere Porträts zeigen ganz unterschiedliche Nachtschwärmer. Neben den menschlichen bewegen sich nachts auch tierische Gestalten durch die kirchlichen Räume: Auf dem Dachboden der Kirche der Propstei St. Gerold lebt eine Population von Fledermäusen. In den drei Gastbeiträgen beleuchten drei externe Autoren und Autorinnen ganz unterschiedliche Bedeutungen der Nacht. Die Nacht hat auch etwas Geheimnisvolles, Schönes. In der Nacht wird es ruhiger – auch beim Kloster Fahr im Limmattal. Ein Schleier der Stille webt sich über die Landschaft. Es ist die Zeit zum Träumen. Hat die Nacht ihren Tiefpunkt erreicht, bricht der Morgen an und Neues beginnt. Aufbrüche entstehen oftmals am Tiefpunkt. In Einsiedeln dürfen Menschen in ihrem Leben roden, was sie am Wachsen hindert. Sie können Lichtungen der Hoffnung und des Friedens suchen und erahnen, weil hier seit mehr als 1000 Jahren ein Licht brennt – auch wenn es Nacht ist. Abt Urban Federer Kloster Einsiedeln Priorin Irene Gassmann Kloster Fahr Liebe Leserinnen, liebe Leser EDITORIAL

7 salve 5/2024 Heilige Nächte RUNDGANG Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es jedes Mal Nacht wird, wenn Sie die Klosterkirche Einsiedeln betreten? ​Das liegt nicht daran, dass Sie spät dran sind. Alle drei grossen Deckenfresken der Kirche – im Oktogon über der Gnadenkapelle, im Predigtraum mit der Kanzel und in der grossen Weihnachtskuppel – zeigen eine nächtliche Szene. Die beiden Künstlerbrüder Cosmas Damian und Egid Quirin Asam ermöglichen durch ihre zwischen 1724 und 1728 geschaffene lebendige Kunst aus Malerei und Stuck im barocken Stil, hautnah in diese Nächte einzutauchen. Wagen wir also den Gang in die Dunkelheit zu einer nächtlichen Kirchenführung und beginnen wir mit der berühmtesten der drei Nächte – der Weihnacht. Die Weihnachtskuppel Keine stille Nacht in der Weihnachtskuppel «Stille Nacht, heilige Nacht» – vermutlich kommt einem dieses Lied in den Sinn, wenn man in einem Stall Maria mit dem Jesuskind sieht, Josef an ihrer Seite, Ochs und Esel im Hintergrund. Jedoch ist die weihnächtliche Nacht, die Cosmas Damian Asam in die Kuppel der Einsiedler Klosterkirche gemalt hat, alles andere als still. Im Lager der Hirten erinnert einiges daran, dass sie es sich um ihr Lagerfeuer gemütlich gemacht hatten. Denn auch in Palästina zu Füssen des Hügels mit der Stadt Bethlehem kann es kalt werden in der Nacht: Die Schafe haben sich zusammengerottet und der Hund schmiegt sich an sein Herrchen. Es muss ein geselliger Abend gewesen sein: Neben den am Boden hin gerekelten Männern liegen leere Krüge – vermutlich waren nicht nur Milch und Wasser darin. Ein Mann stützt sich auf sein Musikinstrument, einem Alphorn ähnlich – hat er gerade noch ein Schlaflied gespielt? Doch plötzlich riss der dunkle Nachthimmel auf und zwischen den leuchtenden Wolken sangen Engel hervor: «Ehre sei Gott in der Höhe.» Erschrockene und staunende Gesichter recken sich nach oben. Einer ist schon aufgesprungen und rennt, trotz Dunkelheit und weiter gebannt auf die Engel blickend – fast stolpert er über eine Wurzel – mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die andere Seite der Kuppel. Im gleichen Moment hat sich dort schon eine grosse Menschenzahl um einen Stall in zerfallenden Ruinen versammelt. Es verwundert nicht, dass man schnell den neugeborenen Heiland fand, den die Engel verkündeten – immerhin stehen auch in der Menge geflügelte Boten, die die Hirtinnen und Hirten zusammenschieben und hinführen zu dem grossen Ereignis. Dort um den Stall wacht nicht nur einsam das traute hochheilige Paar. Stattdessen geht im Getümmel Josef seinen Vaterpflichten nach, indem er eine Windel für das Baby bringt, und Maria präsentiert ihren erstgeborenen Sohn den versammelten Besuchern. Und zwar nicht nur den Hirten links und rechts, sondern vor allem denjenigen weit unter ihr in der Klosterkirche. Eine Lampe braucht sie dafür nicht, denn das Kind selbst leuchtet so hell, dass es das strahlende Zentrum des ganzen Freskos bildet. ▶ Vor lauter Wolken muss die Weihnachtsnacht sehr dunkel gewesen sein. Nun aber haben die Engel sie in der Frater Meinrad Maria Hötzel deutet die nächtlichen Szenen, die in den Fresken der Klosterkirche Einsiedeln kunstvoll dargestellt werden. Fotos: Marion Nitsch

8 salve 5/2024 Jünger werden unruhig und ängstlich: Die Nacht wird immer dunkler. ▶ Der Mond, der durch ein Fenster scheint, nimmt ab und bildet nur noch eine schmale Sichel – passend zum nahenden Unheil. Im Haus wird alles aufgeräumt. Dies deutete auf Jesu Fusswaschung an den Jüngern hin, die gleichzeitig Auftrag und Vermächtnis war. Die Kerzen werden ausgeblasen. Als wenn man schon wüsste, dass Petrus sein Leben nicht für seinen Meister hingeben, sondern ihn verleugnen wird und die Jünger fliehen werden. ▶ Nur aus einer Ecke des Stockwerks scheint helles Licht. Es kommt nicht von der kleinen Kerze, die vom Apostel Johannes sorgsam geschützt wird. Es handelt sich erneut um das goldene Licht, das von Jesus ausstrahlt. In seiner Hingabe am Kreuz, im Tod des unschuldig und ungerecht Verurteilten und Hingerichteten, erlöscht sein Licht wie das einer kleinen Kerze. Und doch leuchtet er weiter, indem er im Mahl seinen Tod vorwegnimmt, wenn er sich selbst, seinen Leib und sein Blut, den Jüngern in Brot und Wein schenkt. Bei Neumond ist der Mond für das Auge verschwunden, unsichtbar und doch ist er dann der Erde am nächsten. Ähnlich kommt Jesus den Menschen im Tod, in seiner Solidarität mit allen Leidenden und der Versöhnung mit den Sünderinnen und Sündern, am nächsten. Dies zu erleben, mitzufeiern im Gottesdienst, in der Eucharistie in dieser Kirche will das Fresko die Betrachterinnen und Betrachter einladen. Mitte der Kuppel weggeschoben. In der Laterne zeigt sich ein prächtiger Vollmond, der völlig im goldenen Licht verblasst, das von unermesslicher Ferne herbeischeint. Aus diesem Glanz schwebt Gottvater begleitet vom Heiligen Geist in Gestalt einer Taube herab. In seinen Händen hält er ein Kreuz und einen Ölzweig. Das verrät viel über die Geburt des Kindes im Stall. Die ruhige Dunkelheit einer wolkenverhangenen Nacht wird vom goldenen Licht aus der Kuppellaterne und dem Strahlen des Kindes durchbrochen – ganz so wie durch den Engelsgesang der gesellige Friede, mit dem sich die Hirten von Arbeit und Mühe erholten und von der Kälte ablenkten. Während solch Ruhe und Frieden auf Erden immer brüchig sind, bringt Gott in der Geburt seines Sohnes ewigen Frieden und Versöhnung. Dafür steht das alte Friedenssymbol des Ölzweigs. ▶ Diesen Frieden lassen die kleinen Engel – sogar ganz plastisch, weil sie von Egid Quirin Asam in Stuck ausgeführt sind – als Spruchband mit der Fortsetzung des Jubelliedes der Engel im Kirchenschiff herunterschweben: «Und Friede auf Erden den Menschen guten Willens». Das Kreuz in Gottvaters Händen deutet den Weg zum Frieden an, denn darin zeigt sich Gottes Bereitschaft, mit seinem Sohn bis zum Äussersten zu gehen, bis ans Kreuz. Die Abendmahlskuppel Verlöschendes Licht beim Abendmahl Dieses Äusserste kommt in einer anderen Nacht zur Sprache. Unter der Abendmahlskuppel blicken wir Zuschauerinnen und Zuschauer in das Obergemach, wo sich Jesus mit seinen Aposteln zum letzten Abendmahl versammelt hat. Die gedeckten Farben zeichnen den Raum in einer ruhigeren Atmosphäre. Man taucht ein in die Stimmung am Abend vor der Kreuzigung Jesu. Nach seiner aufsehenerregenden Tätigkeit der Predigt und des Heilens, der Verkündigung des Reiches Gottes, werfen nun die drohenden Ereignisse der Verhaftung und Ermordung Jesu ihre Schatten voraus. Die Elite hat seinen Tod schon beschlossen, Judas seinen Verrat geplant, die

10 salve 5/2024 ((Textbox)) 1924 war in Einsiedeln erstmals auf dem Klosterplatz «Das grosse Welttheater» von Pedro Calderón de la Barca aufgeführt worden. Das 100-Jahre-Jubiläum wurde mit einer Neufassung von Lukas Bärfuss gefeiert: Die traditionellen Protagonisten Bauer, König, Armer, Reicher, Vernunft und Schönheit wollen das Welttheater absagen. Da entscheidet die junge Emanuela, dass die Kinder alle Rollen selbst spielen. Sie lässt sich mit allen Konsequenzen und selbstbestimmt darauf ein. Sie wird alt, arm, reich, mächtig, schön, herzlich und herzlos. Am Ende bleibt die Frage: «Habe ich weise gehandelt?» Pro Spielabend sahen sich bis zu 2000 Menschen die Inszenierung an. Über 500 Personen aus Einsiedeln, das sogenannte Spielvolk, wirkten auf der Bühne oder hinter den Kulissen mit.

11 salve 5/2024 ▶ Beim Blick auf den Kirchenvater Gregor den Grossen (540–604) oder den Erzengel Michael mit seinem Engels- chor könnte man fast meinen, dass sie gleich herabkommen und die Menschen hier unten zum Mitsingen einladen – so ungeniert wie sie über den Stuck des Gewölbes hinweg von einem Bildfeld zum nächsten fliegen. Gilt das aber ausschliesslich für Einsiedeln und seine Engelweihe, dass hier die in tiefe Nacht getauchte Kirche wieder erstrahlt und plötzlich Freude und Begegnung mit dem Göttlichen möglich werden? Wer die sich in Stuck präsentierenden symbolischen Figuren zu deuten weiss, dem schlägt das barocke Kunstwerk eine Haltung vor, die eine solche Kirche überall ermöglichen kann. Denn der Raum, in dem all das geschieht, wird gebildet durch die Tugenden Glaube, Hoffnung sowie Gottes- und Nächstenliebe, die allen Menschen von Gott als Geschenk angeboten sind. Keine der Nächte in der Einsiedler Klosterkirche ist also still, um nochmals das berühmte Weihnachtslied «Stille Nacht, heilige Nacht» aufzugreifen. Aber alle drei sind heilig, denn sie weisen einen Weg, zu dem, der heilig ist – zu Gott. ◆ Das Oktogon Strahlendes Fest und leuchtende Gemeinschaft Die prächtige Ausschmückung des Oktogons, des grossen Gewölberaums über der Gnadenkapelle mit Fresken und Stuck stellt die Vision Bischof Konrads von Konstanz dar. Der Überlieferung nach hatte er diese Vision in der Nacht vom 13. auf den 14. September 948, bevor er die Gnadenkapelle weihen sollte. ▶ Man sieht den Bischof beim nächtlichen Gebet vor einem der Fenster. Mit ihm darf erlebt werden, wie Jesus Christus ihm zuvorkam und in dieser Nacht vom Himmel herabschwebte und mit vielen Engeln und Heiligen einen Gottesdienst zur Weihe der Kapelle feierte. In den Bildern muss man geradezu nach Hinweisen suchen, dass diese Ereignisse in der Nacht stattfinden. Nur der heilige Ambrosius hält sein Kerzchen. Ansonsten wird diese Septembernacht von himmlischen Wolken durchflutet und von göttlichem Licht durchstrahlt, dass alle Finsternis verschwunden ist. Die Darstellung der Einsiedler Engelweihe vermittelt einen Eindruck, was es bedeutet, dass Jesus Christus nicht aus der Welt verschwunden ist, sondern weiterhin in ihr wirkt und seine Wiederkunft versprochen hat. Die Künstler entrücken dies aber nicht in ein vergangenes Ereignis. Stattdessen eröffnet sich den Pilgerinnen und Pilgern durch das Oktogon eine Perspektive darauf, wie auch sie am Einbrechen des Lichtes Christi in ihre Wirklichkeit teilhaben können, die so oft als Nacht, als Dunkelheit und Einsamkeit erscheint. Jesus Christus und seine Engel und Heiligen werden in der Feier eines Gottesdienstes mit Gewändern und Gegenständen aus der Entstehungszeit der Bilder gezeigt. Das bedeutet, dass es der Gottesdienst ist, durch den man zu dieser Begegnung mit der himmlischen Wirklichkeit kommt. Die Nacht der Engelweihe, in die alle Besucherinnen und Besucher der Einsiedler Klosterkirche noch heute eintreten, will die Gewissheit geben, dass man im geweihten Kirchenbau nie in Einsamkeit und Traurigkeit versinken muss. In der Gesellschaft Christi, der Engel und der Heiligen lässt sich immer feiern. Frater Meinrad Maria Hötzel Frater Meinrad Maria Hötzel ist seit 2016 Mönch des Benediktinerklosters Einsiedeln. Seiner Faszination für das aus der Vergangenheit geschenkte Erbe kann der studierte Historiker in einem Kloster mit über tausendjähriger Geschichte hervorragend nachgehen. Nach dem Abschluss seines Theologiestudiums im vergangenen Sommer und seiner Weihe zum Diakon bereitet er sich auf die Priesterweihe vor. Er trägt in der Liturgie, der Wallfahrt, mit Führungen und in verschiedenen Projekten dazu bei, Menschen im Kloster Einsiedeln einen Zugang zur christlichen Botschaft zu eröffnen.

12 salve 5/2024 Es ist warm in der kleinen Klosterkirche im Kloster Fahr. Die Kinder rutschen unruhig auf den Bänken hin und her. In der Mitte stehen die Weihnachtskrippe und ein dezent geschmückter Christbaum. Eine Schwester liest einen Text vor und entzündet die Kerzen am Adventskranz nacheinander, sie strahlen ein zartes Licht aus. Nach der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium werden die Kerzen am Christbaum entzündet und das Gloria gesungen. Ganz am Ende stimmen die Schwestern das berühmte Weihnachtslied «Stille Nacht, heilige Nacht» in der Version von Silja Walter an. «Es ist jedes Mal ein sehr berührender Moment», sagt Priorin Irene Gassmann. Begleitinstrumente gibt es «Gott hat sich klein gemacht» POESIE Viele Nachtgedichte der verstorbenen Dichterin und Nonne Silja Walter sind von Licht erfüllt. Silja Walter, hier an ihrem Arbeitsplatz, dichtete das Weihnachtslied «Stille Nacht» um.

13 salve 5/2024 nicht; der A-cappella-Gesang erzeugt Schwingungen, füllt den Kirchenraum von Sekunde zu Sekunde stärker aus. Hinzu kommt der unaufdringliche Text: Er passt sehr gut zum reduktionistischen Moment. Mehr Einfachheit In der Christmette am frühen Abend des 24. Dezember ist es im Kloster Fahr Brauch, das berühmte Weihnachtslied «Stille Nacht» nach der Version von Silja Walter zu singen. Schwester Maria Hedwig – mit bürgerlichem Namen Silja Walter – dichtete den Liedtext aus dem Jahr 1818 um. Was genau sie dazu bewog, ist nicht überliefert. Priorin Irene vermutet, dass sich Schwester Hedwig an den romantischen Überhöhungen störte. Hinterlassen hat die 2011 verstorbene Nonne und Schriftstellerin der Nachwelt eine viel demütigere Interpretation von den Geschehnissen der Heiligen Nacht. Besonders die zweite Strophe gefällt Priorin Irene, weil es darin heisst: «Gott hat sich klein gemacht». Silja Walters Version sei gehaltvoller, auch biblischer, und transportiere so die Weihnachtsbotschaft besser. Denn: «Der Stall, die Hirten, das Feld … in diese Einfachheit hinein ist Gott Mensch geworden», so Priorin Irene. Hohe Ambivalenz der Nacht Auch in ihre Lyrik fanden die Nacht und die Facetten ihrer Bedeutung immer wieder Eingang. So zum Beispiel im Gedicht «Gebet des Klosters am Rand der Stadt». Darin ist ein starker Bezug zur Wiederkunft Christi erkennbar, zum Beispiel in den Anfangszeilen: «Jemand muss zu Hause sein, Herr, wenn du kommst / Jemand muss dich erwarten, unten am Fluss vor der Stadt.» Es stellt den Dienst des Wachens der Benediktinerinnen ins Zentrum. «Damit wird der Nacht ihre Schwere genommen», so Priorin Irene Gassmann. Diesen Eindruck hat auch Barbara Kolberg, freischaffende Musikerin und Komponistin spiritueller Texte. Die Freiburgerin ist eine der bedeutendsten Vertonerinnen von Silja- Walter-Gedichten. «Typisch für Silja Walters Nachtgedichte ist, dass sie sich in ganz viel Licht einbetten», so Barbara Kolberg. «Der Halt entzieht sich einem, und doch ist man aufgehoben und geborgen in Gott.» Silja Walter rufe in ihren Gedichten verschiedene Gemütszustände herauf, die mitunter gleichzeitig vorkommen. Barbara Kolberg: «In der Nacht schaut man auf den vergangenen Tag zurück und ruft sich dabei in Erinnerung, was gelang und was weniger glatt lief. Man lässt los und gibt sich für das Neue frei, ohne am Alten festzuklammern.» Viel Bestärkung durch Silja Walter selbst Barbara Kolberg hat sich intensiv mit den Texten von Silja Walter auseinandergesetzt – denn bei Vertonungen von spirituellen Texten orientiert sie sich erst mal stark am Wort. «Die Verse liefern mir bereits sehr viele Informationen. Ich frage mich zum Beispiel: Ist der Grundton einer Passage eher freundlich, zögerlich, nachdenklich, behutsam, frei, anfragend oder zuversichtlich?» Auch auf den Rhythmus, die Struktur und die Dynamik achtet sie. Viel Bestärkung in ihrer Arbeit erhielt Barbara Kolberg noch von Silja Walter selbst. «Ich hatte das grosse Glück, dass ich vor ihrem Tod drei Jahre mit ihr zusammenarbeiten durfte», so die Kirchenmusikerin. Das sei enorm bereichernd gewesen. Sie hat ihr jedes fertig vertonte Gedicht geschickt. Stille Nacht, heilige Nacht, Hirten erst kundgemacht. Singt vom Himmel ein herrliches Licht, Engel künden: O fürchtet euch nicht, Christ der Retter ist. Stille Nacht, heilige Nacht, Gott hat sich klein gemacht Liegt als Kindlein im nächtlichen Stall, hat erschaffen die Welt und das All. Kommt, wir beten ihn an. Stille Nacht, heilige Nacht, Liebe hat Heil gebracht. Kommt vom Himmel im göttlichen Wort, nun wird Erde zum himmlischen Ort, Christ in deiner Geburt. Silja Walters Version von «Stille Nacht» aus dem Jahr 1985

14 salve 5/2024 So konnte Barbara Kolberg Vertrauen fassen, dass ihre musikalischen Interpretationen den Geschmack von Silja Walter trafen. Denn jede Person höre etwas anderes heraus, setze wieder andere Schwerpunkte. Barbara Kolberg: «Mir ist bewusst, dass ich letztlich die Interpretatorin bin.» Nach Silja Walters Tod ist der Kontakt zum Kloster Fahr nie abgebrochen. Bis heute vertont Barbara Kolberg spirituelle Texte von Silja Walter und leitet die Gesangsreihe «Dein Leben will singen» unter Mitgestaltung der Schwestern im Kloster Fahr. An der Weihnachtsmette in der Klosterkirche war Barbara Kolberg zwar noch nie dabei – doch sie kennt diese Art von Atmosphäre aus anderen Gottesdiensten: «Ein Lied entfaltet eine ungeheure Wirkung, wenn es nur a cappella gesungen wird. Das hat etwas Faszinierendes, nahezu Bezauberndes», sagt Barbara Kolberg. «Und gerade im Kloster bekommt der Gesang den Raum, um sich zu entfalten.» Silja Walter Silja Walter legte 1949 ihr Gelübde im Kloster Fahr ab und erhielt den Ordensnamen Schwester Maria Hedwig. Ihr Vater war der Verleger, Schriftsteller und Nationalrat Otto Walter. Silja Walter war eine äusserst produktive, mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie schrieb Gedichte, Theaterstücke, Erzählungen und Romane. Insgesamt veröffentlichte sie über 60 Werke. Manche ihrer Gedichte wurden vertont, was sie sehr schätzte. Zudem war Silja Walter sehr musikalisch: Sie spielte Geige und Klavier. Im Alter von 91 Jahren verstarb sie 2011 im Kloster Fahr. Nacht Herr und Gott, die Lichter schwinden, deine Kirche wacht. Wer dir singt, der wird dich finden; du wohnst in der Nacht. Lass uns ein. Du allein kannst uns Licht in deinem Dunkel sein. Herr und Gott die Sterne drehen ihren Tanz dir zu. Welten steigen und vergehen, du bleibst immer du. Lass uns ein. Du allein wirst im Tode unser Leben sein. Herr, den wir nicht schauen können, gib uns doch dein Licht. Mägden, deren Lampen brennen, zeigst du dein Gesicht. Lass uns ein. Du allein senkst die Welt in deinen Frieden ein. Gedicht von Silja Walter zur Nacht. Aus: Silja Walter, Gesamtausgabe, Band 10, S. 520 Weihnachtsmette in der Klosterkirche Fahr am 24. Dezember 2024 um 19.30 Uhr Die Fahrer Schwestern beim Chorgesang.

15 15 Licht MOMENTUM @konrad: Ist die Firma "offizieller Lieferant" des Klosters? Dann würde ich das schreiben. @awa: Klären wir ab (cja) Das Wunder des hereinbrechenden Lichts ist in der christlichen Theologie von enormer Bedeutung. Das Weihnachtsfest erinnert an die Geburt Jesu, der Licht in eine finster gewordene Welt bringt. An Ostern steht das Licht für Hoffnung. Durch die in völliger Dunkelheit aufscheinenden Kerzen wird in der Osternachtsfeier die Auferstehung Jesu Christi symbolisiert – so wie hier in der Klosterkirche Einsiedeln.

16 salve 5/2024 Traumbotschaften in der tiefen Dunkelheit INTERVIEW Welche Bedeutung haben Nacht und Schlaf in der Bibel – und welche Rolle spielen Träume? Ein Gespräch mit Pater Mauritius Honegger Ruhe auf der Flucht – Maria mit dem Jesuskind und dem Esel während eines Moments der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. Diese Figur befindet sich in der Kunstsammlung des Klosters Einsiedeln und stammt aus dem 19. Jahrhundert, der Künstler ist unbekannt.

17 salve 5/2024 tiefen Schlaf. Da kommt ein Sturm auf, und die Jünger fürchten sich. Wie kann Jesus in dieser schwierigen Situation so sorglos schlummern? Als sie ihn wecken, stillt Jesus den Sturm sofort und fragt: «Warum habt ihr euch gefürchtet?» In diesem Teil des Evangeliums erkennen die Jünger, wer Jesus ist und woher er seine Weisheit hat. Durch Jesu Gelassenheit angesichts des Sturms begreifen sie die Souveränität Gottes über die Kräfte der Natur. Der Schlaf als Ort der Sorglosigkeit. Gibt es noch andere Bedeutungen des Schlafs? Im Schlaf kommt die menschliche Schwachheit zum Ausdruck. Selbst die Stärksten sind im Schlaf schwach. Doch wer schläft, kann Gott nicht anbeten. Manche Gläubige lösen diesen Konflikt mit Schlafverzicht, um Gott länger loben zu können. Diese Form des Eifers kommt übrigens nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen vor. Im Islam ruft der Muezzin frühmorgens zum Gebet. Denn: «Beten ist besser als schlafen!» Schlaf wird als menschliche Trägheit gedeutet, als Zustand der Sünde. Aber der Schlaf ist ja nicht überflüssig, im Gegenteil: Gerade im Schlaf haben manche Auserwählte Gottes- begegnungen. Durch Träume kündigt Gott Veränderungen an und macht Prophezeiungen. Manchmal sind diese verheissungsvoll, manchmal beängstigend. Das prominenteste Beispiel für eine Verheissung ist die Geschichte von Jakob und der Himmelsleiter (Gen 28,10–22). Der Patriarch Jakob sah im Traum eine Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Der Herr stand oben und versprach, Jakob und seinen Nachkommen das Land zu geben, auf dem er sich befand. Er stellte ihm auch zahlreiche Nachkommen in Aussicht und verhiess ihm, dass seine Familie sich überall in die Welt ausbreiten wird. Am Ende verspricht Gott, Jakob nicht zu verlassen, bis alles vollbracht ist. Gott schickt Jakob diesen Traum, um ihm seine Zukunft zu verkünden. In diesem Moment findet Jakob zu Gott. Welche Personen wählt Gott für seine Traumbotschaften? Das ist sehr unterschiedlich. Doch wenn man eine Gruppe identifizieren müsste, wären es sicher die Weisen. Sie empfangen überdurchschnittlich häufig Traumbotschaften, weil sie Träume auch deuten können. In der Bibel ist das ein Zeichen grosser Pater Mauritius Honegger, wodurch zeichnen sich die Nächte in der Bibel aus? Die Nächte, wie sie im Alten und im Neuen Testament beschrieben werden, sind sehr dunkel. Wir müssen uns vorstellen, dass es vor über zweitausend Jahren noch keinen Strom gab. Die Menschen haben sich stark am Rhythmus der Sonne orientiert. Man ging nach Sonnenuntergang ins Bett und stand am nächsten Tag mit den ersten Sonnenstrahlen wieder auf. Die grosse Dunkelheit dazwischen war beängstigend. Das machte die Nacht zu einer Zeit der Gefährdung, in der man sich Gott anvertraute. Welche Bedeutung hat die Nacht im Christentum generell? Bereits die frühen Christinnen und Christen im ersten Jahrhundert nach Christus definierten sich als Kinder des Lichts. Im 1. Thessalonicherbrief, der ältesten Schrift des Neuen Testaments, um das Jahr 50 von Paulus verfasst, heisst es: «Ihr alle seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis.» (1 Thess 5,5). Die Nacht ist daher eher negativ konnotiert. Gleichzeitig ist sie Teil eines Ordnungsprinzips, das Gott festlegte. Bereits im ersten Kapitel der Genesis heisst es: «Es wurde Abend … und es wurde Morgen.» (Gen 1,4 und öfters). Auf diese Weise gab Gott den Menschen einen Lebensraum innerhalb der Schöpfung. So gesehen ist die Nacht wichtig für die zeitliche Dimension und die innere Ordnung in der Bibel. Im Thessalonicherbrief wird an zwei Stellen prophezeit, dass Jesus Christus am Ende der Welt zurückkommt. «Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht», heisst es (1 Thess 5,2). Nicht die Tageszeit an sich steht hier im Vordergrund – sondern die Tatsache, dass er zurückkommt, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Es ist der Überraschungseffekt, der mit dem Bild des Diebs in der Nacht ausgedrückt wird. Die Nacht ist auch eng mit Schlaf und Erholung verbunden. «Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er getan hat, und ruhte», heisst es im Buch Genesis (Gen 2,2). Wie wichtig ist der Schlaf in der Bibel? Am häufigsten wird der Schlaf dann erwähnt, wenn die Situation, in der er vorkommt, eher aussergewöhnlich ist. Im Neuen Testament besteigen Jesus und seine Jünger ein Schiff, das sie über den See Genezareth bringen soll (Mk 4,35-41). Jesus ist erschöpft vom Predigen und Heilen und fällt sofort in einen «Die Nacht ist Teil eines Ordnungsprinzips, das Gott festlegte. Bereits im ersten Kapitel der Genesis heisst es: ‹Es wurde Abend … und es wurde Morgen.›» Pater Mauritius Honegger

Fresko von Jakobs Traum mit der Himmelsleiter. Die Darstellung befindet sich in der Einsiedler Klosterkirche im Gewölbefeld über dem Rosenkranzaltar und stammt von Alois Keller (1788–1866). Der Apostel Petrus weint voll Reue, nachdem er Christus drei Mal verleugnet hat. Im Hintergrund ist die vorangegangene Szene sichtbar: Petrus wärmt sich im Hof des Hohen Rats am Feuer, während Christus die dunkelste Stunde seines Lebens erlebt. Die Darstellung befindet sich in der Beichtkirche und stammt von Johannes Brandenberg (1661–1729). 18 salve 5/2024

19 salve 5/2024 «Im Schlaf kommt die menschliche Schwachheit zum Ausdruck. Selbst die Stärksten sind im Schlaf schwach.» Pater Mauritius Honegger Weisheit. Wer diese Gabe Gottes besitzt, ist sehr aufmerksam und besitzt eine überdurchschnittliche Sensibilität. Warnt Gott auch durch Träume? Sehr stark mit Träumen und ihrer Deutung in Verbindung steht Josef, der Sohn Jakobs. Er hat schon als Kind geträumt, wovon die Familie freilich wenig begeistert war (Gen 37,5–11). Er kommt nach Ägypten und wird dort ins Gefängnis gesteckt, obwohl er unschuldig ist. Im Gefängnis deutet er die Träume seiner Mitgefangenen (Gen 40,1–23). Als der Pharao beunruhigende Träume hat, die er nicht deuten kann, lässt er Josef aus dem Gefängnis holen. Josef gelingt es mühelos, die Träume des Pharaos zu deuten: Sieben gute Jahre und sieben schlechte Jahre stehen Ägypten unmittelbar bevor (Gen 41,1–36). Da lässt der Pharao Kornspeicher anlegen und kann so eine Hungersnot abwenden. Dank Josefs Traumdeutung entgeht Ägypten – und mit ihm viele weitere Völker, die sich hilfesuchend an den Pharao wandten – einer Katastrophe. Auch der Josef in der Weihnachtsgeschichte empfängt Träume von Gott. Als Josef erfährt, dass Maria schwanger ist, und er ja wusste, dass er nicht der Vater ist, beginnt er zu zweifeln. Soll er Maria wirklich heiraten? Doch da erscheint ihm im Traum ein Engel (Mt 1,20–21) und sagt ihm, Marias Kind ist der Sohn Gottes. Der Engel gibt ihm die Anweisung, sich nicht von Maria zu trennen und mit ihr und dem Kind nach Ägypten zu gehen. Oft wird Josef als schwache Figur rezipiert, der nicht viel sagt und keine eigene Meinung hat. Doch allein die Engelsbegegnung im Traum zeigt: Josef war wachsam und sensibel für die göttliche Wirklichkeit. Gibt es auch Beispiele, in denen die Traumbotschaften nicht ankommen? Die Berufung von Samuel ist so ein Beispiel. Da kommt die Botschaft zwar an, aber nicht sofort. Samuel hört Gottes Stimme zum ersten Mal im Schlaf. Dreimal wird er von ihm gerufen, dreimal glaubt er, es sei sein Lehrmeister Eli, der ihn gerufen habe. Erst beim dritten Mal versteht der Meister und hilft ihm, sich der göttlichen Stimme zu öffnen (1 Sam 3,1–18). Ich würde das so auslegen, dass Gott Geduld mit uns hat und seine Botschaften wiederholt, wenn es nötig ist. In den Träumen steckt also die Kraft grosser Veränderung – kann uns das auch heute noch helfen? Träume sind nur ein Kanal von vielen, die Gott verwendet, um mit uns zu kommunizieren. Gottesbegegnungen können wir auch in zwischenmenschlichen Begegnungen wahrnehmen oder beim Lesen der Heiligen Schrift. Nicht jeder Traum ist also gleich automatisch der Wille Gottes. Ein Extrembeispiel wäre, wenn ich davon träumen würde, jemandem Gewalt anzutun. Anstatt zur Tat zu schreiten, hinterfrage ich den Traum und prüfe, ob die Handlungsanweisung mit dem Rest der Offenbarung in Einklang steht. Das wäre hier natürlich nicht der Fall. ◆ Pater Mauritius Honegger Pater Mauritius Honegger, Jahrgang 1984, trat 2005 ins Kloster Einsiedeln ein. Er ist Subprior des Klosters und unterrichtet Latein und Griechisch an der Stiftsschule. Das Theologiestudium absolvierte er an der klostereigenen Theologischen Schule in Einsiedeln und an der School of Theology der Erzabtei St. Meinrad in den USA. Es folgte eine bibelwissenschaftliche Spezialisierung am Bibelinstitut der Franziskaner in Jerusalem und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

20 salve 5/2024 Der Lipizzanerschimmel Hans stupst Eva neugierig an und schnaubt dabei. Unweigerlich muss die zierliche Frau lachen. Sie berührt das warme, weiche Fell des 22-jährigen Wallachs, streichelt mit den Fingerspitzen die zarte Fläche auf den Nüstern. Hans blickt Eva aus seinen sanften dunklen Augen gutherzig an. Für die Mutter von zwei kleinen Kindern fühlt sich dieser Moment an, als würde sich ein dichter Nebel lichten. Seit Monaten hat sie sich nicht mehr so leicht und unbeschwert gefühlt. Getrennt von ihrem Mann, der sie jahrelang sexuell missbrauchte, lebt sie an der Armutsgrenze. Ihren beiden Kindern zuliebe – zwei und vier Jahre alt – findet sie im Alltag irgendwie die Kraft, den Kopf über Wasser zu halten. Zufluchtsort für Alleinerziehende mit ihren Kindern Die Propstei St. Gerold in Vorarlberg ist eine Zufluchtsstätte für Menschen, deren Lebensweg von Ängsten und Zweifeln verdunkelt wird. Die psychisch belasteten Situationen sind sehr vielfältig: Trennungen, Verlust von nahen Angehörigen, Krankheit, Existenzängste, Leben an der Armutsgrenze oder Burn-out. In der abgeschiedenen Bergwelt des Grossen Walsertals bietet die Oase der Begegnung in der Propstei St. Gerold begleitete und finanziell unterstützte Erholungsaufenthalte. In der Regel dauern sie sieben bis vierzehn Tage. «Die Personen, die über das Projekt zu uns kommen, brauchen einen Lichtblick in dunklen Zeiten», so Alexandra Zerlauth. In den letzten beiden Jahren hat die Propstei den Fokus auf Alleinerziehende mit ihren Kindern gelegt. Durch die schlechte finanzielle Lage können sie sich keine Ferien leisten – und werden so immer erschöpfter. Als Sozialarbeiterin kümmert sie sich während der ganzen Dauer des Aufenthalts empathisch um ihre Gäste. Mit Pferden zurück ins Licht AUFENTHALT Therapiepferde vermitteln Menschen in herausfordernden Lebensphasen Stärke und Sicherheit. In psychisch belasteten Situationen bietet die Propstei St. Gerold finanziell unterstützte Erholungsaufenthalte mit Therapiepferden.

21 salve 5/2024 Naturnahe Pferdetherapie mit Kuscheleinheiten Im Mittelpunkt der Erholungsaufenthalte stehen die Angebote der Propstei und der Therapiestall. Schwere Zeiten hinterlassen oft Spuren in der Seele und schaden dem Selbstwert. «Durch das Erlebte fühlen sich die Gäste oft schwach, kraft- und wertlos», so Alexandra Zerlauth, die auch Therapeutin für pferdegestützte Therapie ist. «Von den Pferden fühlen sich die Gäste angenommen – und zwar genauso, wie sie gerade sind.» Eva vergräbt ihr Gesicht in der dicken Mähne des Wallachs. Alexandra Zerlauth fragt nach: «Wie erlebst du das Pferd?» Eva denkt kurz nach, dann antwortet sie bestimmt: «Stark.» Die ressourcenorientierte Therapie zielt darauf ab, die wahrgenommenen Gefühle auch wieder in sich selbst zu spüren und in seinen Wesenskern zu integrieren. Parallel zur achtsamkeitsbasierten Arbeit mit den Pferden führt Alexandra Zerlauth individuelle psychosoziale Beratungsgespräche. Individueller Charakter der Pferde Die Pferde in St. Gerold werden naturnah und tiergerecht gehalten. Pferdeboxen gibt es daher nicht, stattdessen können die acht speziell ausgebildeten Therapiepferde frei auf der Weide herumlaufen. In St. Gerold werden Tiere nicht nach ihrem Nutzen für den Menschen beurteilt. Dieser Philosophie zugrunde liegt der respektvolle Umgang mit der Natur in der Propstei, die auch Pater Martin Werlen, Propst von St. Gerold, sehr am Herzen liegt. «Wir sehen die Pferde als Geschöpfe Gottes», so Alexandra Zerlauth. Geritten werden die Tiere nicht, ihre individuellen Charaktereigenschaften dafür hochgeschätzt: den Schimmel Hans für Mut und Durchsetzungskraft, die Rappstute Gina für Ruhe und innere Gelassenheit und die zauberhafte Isländerstute Mánadís, um Wunder ins Leben einzuladen. Alexandra Zerlauth: «Pferde sind emotional sehr intelligent. Als Fluchttiere liegt es in ihrem Instinkt, ihr Gegenüber mit allen Sinnen wahrzunehmen.» Innere Einkehr unterstützt den Heilungsprozess Spiritualität als heilsame Kraft: Dafür sorgt auch die wilde, unberührte Natur des Grossen Walsertals mit dem Label UNESCO-Biosphärenpark. Unterhalb der Propstei führen beschilderte Achtsamkeitswege durch den Wald. Auch die majestätischen Berge und die grandiosen Ausblicke helfen, innerlich zu heilen, wenn es Nacht geworden ist in der eigenen Seele. Eines der berührendsten Komplimente bekam Alexandra Zerlauth von einer Mutter von vier Kindern, die alle chronische Erkrankungen haben: «Eine Woche Propstei ist besser als vier Wochen Reha.» ◆ Alexandra Zerlauth Die gelernte Sozialarbeiterin ist 34 Jahre alt und arbeitet seit sieben Jahren für die Oase der Begegnung der Propstei St.Gerold. Die Vorarlbergerin ist mit Pferden aufgewachsen und hat selbst eine 33-jährige Stute, die sie nach St. Gerold mitbringen durfte. Nach der Weiterbildung zur pferdegestützten Therapeutin hat sie die naturnahe Arbeit mit Pferden von Julia Joswig gelernt, Theologin und Leiterin des Therapiestalls in der Propstei St. Gerold. Im Beisein von Pferden lernen belastete Kinder wieder zu vertrauen. «Von den Pferden fühlen sich die Gäste angenommen – und zwar genauso, wie sie gerade sind.» Alexandra Zerlauth

Bruder Gerold Zenoni Garderobier der Madonna Es ist 20 Uhr abends, eben sind die letzten Töne der Komplet verklungen. Bruder Gerold Zenoni hat das Gerüst bereits aufgebaut, das er für den Kleiderwechsel der Muttergottes in der Gnadenkapelle benötigt. Ab heute wird das Gnadenbild das Sankt-Gerold-Kleid mit passendem Schmuck tragen. Es stammt aus dem Jahr 1750 und besteht aus altem Goldbrokat, verziert mit reichem Blumendekor. Kaum eine Madonna hat eine so umfangreiche Garderobe wie diejenige im Kloster Einsiedeln. Ihr ältestes Kleid ist über 400 Jahre alt. Etwa 20 Mal im Jahr erhalten die Muttergottes und das Jesuskind aus einer Auswahl von 37 verschiedenen Kleidern ein neues Kleid. Einige Kleider sind nach den Anlässen benannt, an denen sie getragen werden – wie das Osterkleid mit prächtigen gestickten Seidenblumen oder das violette alte Engelweihkleid. Ansonsten bestimmt das Kirchenjahr mit seinen liturgischen Farben die Kleiderwahl. Inzwischen sind die Madonna und das Jesuskind neu eingekleidet. Bruder Gerold kontrolliert nochmals, ob Kleid, Schleier und Schmuck gut sitzen, dann ist sein Werk als Garderobier für heute Abend vollbracht. Ganz vorsichtig holt Bruder Gerold Zenoni in der Sakristei der Gnadenkapelle das Kleid aus Goldbrokat hervor. Rund zwanzig Mal im Jahr wechselt er der Madonna die Garderobe. Nachtschwärmer EINBLICKE Wer ist in den ruhigen Nachtstunden in und um das Kloster Einsiedeln noch wach und warum? Vier Kurzporträts erzählen von Menschen, die nachts unterwegs sind. Sie erledigen Aufgaben, die primär nachts anfallen. Fotos: Evelyne Marty 22 salve 5/2024

Joachim Stahl Internatsleiter Stiftsschule Einsiedeln Es ist 23.30 Uhr nachts. Joachim Stahl, Internatsleiter der Stiftsschule Einsiedeln, liest, bevor er sich um 24 Uhr ins Anwesenheitszimmer zur Nachtruhe zurückzieht. Heute ist er für die Nachtwache verantwortlich. Einen ruhigen Schlaf habe er dann jeweils nicht, mit einem Auge sei er immer wach. Um 21.50 Uhr haben die Jugendlichen der ersten bis dritten Klasse des Gymnasiums ihr Handy und ihren Laptop im Internatsbüro abgegeben. Die älteren Schülerinnen und Schüler dürfen ihre Geräte bei sich im Zimmer behalten. Anfang des Schuljahrs kann es in den ersten Nächten vorkommen, dass die jüngeren Schülerinnen und Schüler das Heimweh plagt. «Leider gibt es dagegen keine Tablette», so Joachim Stahl. Er versucht den Kindern gut zuzureden und ihnen beizustehen. Manchmal muss Joachim Stahl für Ruhe sorgen. Teenagermädchen meinen, sie können leise plaudern, aber das gehe gar nicht ohne lautes Kichern. Wenn der Geräuschpegel andere Schülerinnen und Schüler störe, greift Joachim Stahl ein. «Aber ich bin kein Polizist. Und zum Glück machen die Jugendlichen nicht jede Nacht Halligalli.» Internatsleiter der Stiftsschule Einsiedeln, Joachim Stahl, wartet im Aufenthaltszimmer des Internats auf den Beginn seiner Nachtschicht. Während der Nacht hält er sich für die Anliegen der Internatsschüler und Internats- schülerinnen bereit. 23 salve 5/2024

Franz Xaver Höller Geschäftsführer Mathis Orgelbau Es ist 22 Uhr nachts. Ein kräftiges tiefes C ertönt in der Klosterkirche, leise Männerstimmen sind hörbar. Franz Xaver Höller und Pavel Jezdik der Firma Mathis Orgelbau sind dabei, die Chororgel zu stimmen. Jede der vier Orgeln in der Klosterkirche hat ihre eigene Klangfarbe und unterscheidet sich in der Anzahl ihrer Register und Pfeifen. Temperaturschwankungen führen dazu, dass sich Orgeln verstimmen. «Dann klingt ein Orgellied manchmal falsch in den Ohren der Zuhörenden. Dabei ist nur die Orgel verstimmt», so Franz Xaver Höller. Die Orgeln der Klosterkirche werden mehrmals jährlich vor wichtigen Anlässen gestimmt. Beim Stimmen ist das Team von Mathis Orgelbau immer zu zweit, eine Person ist bei den Pfeifen, die andere am Spieltisch. Orgeln werden normalerweise mit Hilfe eines Computers eingestimmt, aber nachgestimmt wird nach Gehör. Die für die Arbeit nötige Ruhe herrscht in der Klosterkirche nur in der Nacht. Es kam schon vor, dass vom Abendgottesdienst bis zum Morgengebet durchgestimmt wurde. Franz Xaver Höller: «Manchmal sind die Mönche nicht so begeistert, wenn das Orgelstimmen ansteht. Denn ihre Schlafzellen sind nahe bei der Marienorgel. Deshalb stimmen wir diese Orgel gleich am Anfang oder frühmorgens.» Pavel Jezdik von Mathis Orgelbau beim Stimmen der Chororgel in der Klosterkirche. 24 salve 5/2024

Roger Kunze Sakristan Es ist 20.30 Uhr abends, Roger Kunze wechselt die Ölkerze des Ewigen Lichts aus. Er steigt eine Leiter hoch, nimmt die alte Kerze raus und stellt eine neue in die Ampel. «Der sorgsame Umgang mit den heiligen Gegenständen wie Tabernakel oder kostbaren Reliquien braucht viel Fingerspitzengefühl», so Roger Kunze. Danach greift er zum Staubsauger, die zweistündige Reinigungsrunde durch die Klosterkirche steht an. Roger Kunze ist seit 25 Jahren als Sakristan im Kloster Einsiedeln tätig. Er kümmert sich zusammen mit fünf Kolleginnen und Kollegen unter anderem um den Unterhalt, die Reinigung und die Dekoration der Klosterkirche. Einmal in der Woche ist jemand aus dem Team auch in der Nacht in der Klosterkirche unterwegs, ansonsten sind sie tagsüber tätig. Roger Kunze: «In der Nacht lässt es sich einfacher arbeiten. Am Tag ist immer viel Betrieb in der Kirche.» Bei besonderen Anlässen wie der Engelweihe gibt es viel zu tun für Roger Kunze und das Sakristanenteam. Dann werden unter anderem während zwei Stunden mehr als 3000 Kerzen in der Klosterkirche, auf den Fensterbänken der Klosterfassade und auf dem Klosterplatz angezündet. ◆ Ungestörtes Vorwärtskommen ist in der Klosterkirche nur nachts möglich: Sakristan Roger Kunze bei der Boden- reinigung. 25 salve 5/2024

26 salve 5/2024 Wer die Einsiedler Klosterkirche besucht, dem fallen schnell drei modern gestaltete Reliquiare für die heiligen Meinrad, Benedikt und Mauritius auf. Gerade in der Dämmerung der frühen Morgenstunden oder am späten Abend wirken sie wie Laternen, die den Besucherinnen und Besuchern des Gotteshauses den Weg erhellen. Der Leitgedanke bei der Realisierung der drei Behältnisse für die Gebeine der drei für Einsiedeln bedeutsamen Heiligen war das Wort Jesu: «Ihr seid das Licht der Welt. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen» (Matthäus 5,14–16). Licht im «Finstern Wald» Das Lebens- und Glaubenszeugnis von Menschen, die aus einer tiefen Gottverbundenheit leben, strahlt aus. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) hielt im Bericht über seine Schweizreise folgende Gedanken über den heiligen Meinrad fest: «Es musste ernste Betrachtung erregen, dass ein einzelner Funke von Sittlichkeit und Gottesfurcht hier ein immer brennendes leuchtendes Flämmchen angezündet, zu welchem gläubige Scharen mit grosser Beschwerlichkeit heranpilgern sollten, um an dieser heiligen Flamme auch ihr Kerzlein anzuzünden.» Was der deutsche Dichter anlässlich seines Besuchs in Einsiedeln über den heiligen Meinrad schrieb, lässt sich auch auf viele andere Heilige beziehen. Doch war in ihrem Leben alles nur eitel Sonnenschein? Wer das Leben der genannten Heiligen näher betrachtet, erkennt, dass dies so nicht stimmen kann. Der heilige Meinrad und der heilige Mauritius kamen durch Gewalt zu Tode: Meinrad im Jahr 861 als Opfer eines Raubmordes, Mauritius und seine Gefährten um 300 als Opfer der Christenverfolgung im Römischen Reich. Doch nicht nur die letzten Augenblicke im Leben dieser Heiligen waren von Dunkelheit geprägt. Wie im Leben aller Menschen wechseln sich auch im Leben der Glaubenszeugen Licht und Schatten ab. Das muss so sein, denn Glaube, Hoffnung und Liebe müssen sich bewähren, um wachsen zu können: ohne Prüfung kein Lohn, ohne Versuchung keine Standhaftigkeit, ohne Dunkelheit kein Licht. «Die dunkle Nacht der Seele» Und doch würden wir Heilige nie mit Depression, Angstzuständen oder der Erfahrung von Gottferne in Verbindung bringen. Dies passt nicht in das Bild, das wir uns von den Heiligen zurechtgelegt haben. Allenfalls bringen spirituell Interessierte den heiligen Johannes vom Kreuz (1542–1591) aufgrund seines während einer neunmonatigen Haft in einem fensterlosen Kerker verfassten Gedichts mit der «Dunklen Nacht der Seele» in Beziehung. Doch ist das schon alles? Ja, werden viele Menschen meinen. So waren manche irritiert darüber, dass zehn Jahre nach dem Tod von Mutter Teresa von Kalkutta (1910–1997) ein Buch erschien, in welchem die darin gesammelten Briefe an ihren Beichtvater von tiefen und anhaltenden Glaubenszweifeln erzählen. Dass der lächelnde «Engel der Armen» in ungeschönter Offenheit über die Not angesichts eines abwesenden Gottes schrieb, war für manche nur schwer zu ertragen. In einem ihrer Briefe ist zu lesen: «Tief in meinem Innern ist nur Leere und Dunkelheit. Ich habe keinen Glauben – ich wage es nicht, die Worte und Gedanken auszusprechen, die mich so unbeschreiblich leiden lassen.» Offenbar war dies nicht eine kurze Episode, sondern jahrzehntelang erfahrene Wirklichkeit. Kurz nach der Gründung ihres Ordens der Missionarinnen der Nächstenliebe trat an die Stelle einer tiefen, fast mystisch anmutenden Christusbeziehung die Erfahrung der Leere und der Zweifel an der Existenz Gottes. Derjenige, dem Mutter Teresa in den «Ärmsten der Armen» dienen wollte, liess es zu, dass sie gerade durch die Erfahrung der Dunkelheit im eigenen Herzen ein Licht für diese Welt sein konnte. Es war nur konsequent, dass die Publikation der persönlichen Briefe über ihre Glaubensnot kein Hindernis war für ihre im Jahr 2016 durch Papst Franziskus erfolgte Heiligsprechung. Am Ende das Licht Die Bibel und insbesondere die Psalmen sind starke Zeugnisse dafür, dass die Erfahrung der Nacht und der geistigen Trockenheit, ja selbst die Erfahrung der vermeintlichen Abwesenheit Gottes zum Glaubensleben dazugehören. «Die Dunkelheit lässt das Licht heller scheinen» PERSPEKTIVE Pater Philipp Steiner beleuchtet das Leben von Heiligen, die strahlen – obwohl sie die dunkle Nacht durchlitten haben.

27 salve 5/2024 Um im Bild zu bleiben: Licht leuchtet nicht für sich selbst, sondern für andere. Licht sein heisst, für andere leben und Menschen in Liebe annehmen. Die brennende Kerze macht es uns vor: Sie kann nur leuchten, indem sie sich selbst verzehrt, sich selbst aufgibt, für andere da ist. So bleiben die Heiligen, welche die dunkle Nacht durchlebt haben, leuchtende Vorbilder für Menschen, die das Dunkle nicht ausblenden, sondern in das Licht einer grösseren Liebe stellen. Die Dunkelheit gehört zum (Glaubens-)Leben dazu, hat aber nicht das letzte Wort. Denn Jesus Christus sagt: «Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben» (Johannes 8,12). Pater Philipp Steiner Pater Philipp Steiner ist Mönch des Klosters Einsiedeln und für den Wallfahrtsbetrieb sowie die Klosterkirche verantwortlich. Seit seiner Kindheit üben die Heiligen eine grosse Faszination auf ihn aus. 1 Benedikt von Nursia von Magister Conxolus, 13. Jh. 2 Meinrads-Reliquiar in der Klosterkirche Einsiedeln, Künstler: Christoph Stooss, eingeweiht 2021 3 Der heilige Meinrad auf dem Weg in den Finstern Wald, Guttäterbuch Kloster Einsiedeln, 1588 4 Heiliger Johannes vom Kreuz von F. De Zurbarán, 1656 5 Begegnung des heiligen Mauritius mit dem heiligen Erasmus von Matthias Grünewald, 1520–1524 6 Heilige Mutter Teresa von Kalkutta, 1910–1997 1 4 2 5 3 6

RkJQdWJsaXNoZXIy MTIyOTY=