P. Thomas Fässler am Hochfest Allerheiligen 2023

01.11.2023

«Sie, Pater Thomas, wollen Sie auch einmal heilig werden?» So fragte letzthin, liebe Schwestern und Brüder, jemand zu Beginn des Geschichtsunterrichts. Meine Schülerinnen und Schüler wissen gut, mit welchen Fragen sie mich am erfolgreichsten vom vorgesehenen Schulstoff abbringen können. «Gewiss will ich das!», gab ich zur Antwort, «und ich hoffe, dass auch Ihr alle einmal heilig werdet. Schliesslich ist es die Berufung von uns allen, Heilige zu werden!» «Ich und heilig?» Diese Frage war den jungen Menschen allzu deutlich ins Gesicht geschrieben. Und ihre Gesichtszüge verrieten, dass sich kaum jemand von ihnen als Statue oder auf einem Gemälde vorstellen konnte, mit einem glänzenden Heiligenschein am Hinterkopf. Heilig zu werden, klang in ihren Ohren wohl auch nicht besonders attraktiv, eher zu brav, langweilig. Nichts mehr machen dürfen – oder noch schlimmer: nichts mehr machen wollen, das provoziert, das nicht ganz in Ordnung ist. Nur nicht!

Ich aber wollte nicht lockerlassen. Schliesslich waren es ja auch sie, die das Thema angeschnitten hatten. So meinte ich: «Aber wieso sprechen wir überhaupt davon, heilig zu werden? Schliesslich bin ich ja schon heilig!» Sie können sich gewiss vorstellen, wie die Klasse reagierte. Ich schlug vor, mal das Internet dazu zu befragen, künstliche Intelligenz, das Non-Plus-Ultra des auf Erden verfügbaren Wissens. «Ist Pater Thomas Fässler von Einsiedeln heilig?», tippten wir in den sogenannten ChatGPT ein. Das ist ein Programm, das basierend auf der unvorstellbar grossen Menge der in den Weiten des Internets verfügbaren Texte in Sekundenschnelle eine Antwort auf eine gestellte Frage liefert – hier nun eben, ob ich ein Heiliger bin. ChatGPT – dieses Programm – lieferte nun natürlich jene Antwort, die wir im Klassenzimmer alle erwartet hatten. Und die lautete: Ich sei nicht heilig.

Ob ChatGPT Paulus nicht kennt, wie er die Gläubigen verschiedener Gemeinden in seinen Briefen als «Heilige» anspricht, die sich dann aber im weiteren Verlauf der Briefe als so ziemlich alles andere als das entpuppen, was wir unter dem Stichwort «heilig» verstehen, wie sie zanken, wie sie sich allgemein wenig sittlich benehmen? Offensichtlich hat Paulus, der heilige Paulus, ein anderes Verständnis von «heilig» als wir es heute gemeinhin haben: Wie hätte er auch das Prozedere einer offiziellen Heiligsprechung durch den Papst voraussehen können, als Voraussetzung dafür, dass jemand in der Kirche als Heiliger verehrt werden darf! Für ihn bedeutet «heilig» vielmehr zu Gott zu gehören, und zwar aufgrund der Taufe. «Geheilt» zu sein von dem, was von Gott trennt, abgewaschen vom Wasser der Taufe. Heiligkeit meint für ihn Zugehörigkeit zu Christus, auf ihn zu vertrauen. So haben wir auch vorhin aus dem ersten Johannesbrief gehört: „Jeder, der seine Hoffnung auf Gott setzt, heiligt sich, so wie er heilig ist.“

Dass wir zu Gott gehören, dass wir Kinder Gottes sind, dass er uns bei unserem Namen ruft, macht uns fähig, uns auf dem Weg zu ihm hin zu machen. Ohne seine Aktivierungsenergie, ohne den von ihm geleisteten Anfangsschub wäre es uns gar nicht möglich, den Stein überhaupt zum Guten hin ins Rollen zu bringen. Am Anfang von allem Guten steht immer Gott. Das sehen wir auch daran, wenn wir bedenken, wie schwierig es ist, wieviel Motivation und Kraft es kostet, den Stein wieder ins Rollen zu bringen, wenn wir unterwegs aus dem – im guten Sinn – Trott geraten sind, von guten Gewohnheiten abgekommen und zum Stilltand gekommen sind, aus welchen Gründen auch immer. Das Ziel vor Augen, aber vor allem auch das Wissen darum, dass Gott uns alles für den Weg Notwendige mitgegeben hat, sind uns Ansporn, dranzubleiben, das in uns Grundgelegte, dieses Potenzial, tatsächlich auch zur Entfaltung zu bringen, auf dem Weg zu bleiben, auch wenn es bergauf geht, wenn es schwierig wird, wenn wir Hunger leiden, das heisst wenn wir eine innere Leere verspüren, wenn wir arm geworden sind, das heisst wenn uns etwa die Gesundheit verlassen hat.

Freilich ist diese Befähigung zum Guten mehr als nur ein innerer Ansporn. Es ist auch ein Anspruch von aussen, ein Auftrag, einmal mehr im Spannungsfeld zwischen «schon» und «noch nicht»: Heilig sein, um heilig zu werden, um heilig werden zu können. Die Gabe der Taufe ist auch eine Auf-Gabe. Erinnern wir uns an das Gleichnis mit den anvertrauten Talenten: Wem Wanderschuhe überreicht werden, den erwartet man auf dem Weg.

Der Mensch ist in der Verantwortung des Mittuns, des Mitgehens, damit das Gute wird. Dazu eine kleine abschliessende Geschichte: «Ein junger Mann betritt einen Laden. Hinter der Kasse sieht er einen Engel stehen und fragt ihn sogleich, was er denn verkaufe. Der Engel antwortet ihm: ‚Alles‘. Nach kurzem Überlegen beginnt der junge Mann: ‚Dann hätte ich gern das Ende aller Kriege, keinen Hunger mehr bei Tier und Mensch und…‘ Da unterbricht ihn der Engel und sagt: ‚Entschuldigung, da haben sie mich falsch verstanden. Wir verkaufen hier nur den Samen.‘»

Amen.