Predigt von P. Patrick Weisser am 23. Sonntag im Jahreskreis 2023

10.09.2023

Sigmund Freud, der 1939 verstorbene Begründer der modernen Psychoanalyse, und Jesus Christus, Gottes Sohn und unser Erlöser, haben zumindest Eines gemeinsam, nämlich die Auffassung, dass wir Menschen von Grund auf konflikthafte Wesen sind.

So spricht Jesus einmal davon, wie sehr sich die Schriftgelehrten und Pharisäer nach aussen anders geben, als sie nach innen sind: „Ihr seid wie die Gräber, die aussen weiss angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung.“ (Mt 23,27.)

Was Jesus von den Schriftgelehrten und Pharisäern sagt, das gilt von uns allen. Schliesslich hat es einen Grund, dass Jesus Christus für uns ans Kreuz gegangen ist. Wir Menschen sind ganz einfach der Erlösung bedürftig.

Wenn nun wir Menschen schon in uns selbst konflikthaft sind, wie viel komplizierter werden dann erst die Beziehungen unter uns. In jeder menschlichen Familie und Gemeinschaft gibt es notgedrungen immer auch Spannungen und Konflikte. Das ist kaum anders möglich.

Nicht nur das auserwählte Volk Israel ist spannungsgeladen, wie das AT auf jeder Seite zeigt, sondern auch die kleine Gemeinde Jesu. Das sehen wir im NT – auch auf jeder Seite. Weshalb sonst müsste Matthäus eine Weisung vorlegen, wie die junge Christengemeinde mit Konflikten umgehen kann? —

Wie geht die frühe Christengemeinde des Matthäus konkret mit Konflikten um? Schauen wir uns das genauer an. Denn es gibt uns eine Antwort auf die Frage, wie wir heute im Geist Jesu mit Konflikten in unseren Familien und Gemeinschaften umgehen können.

Wenn dabei im Text des Evangeliums nur von „Brüdern“ die Rede ist, halten wir uns vor Augen, dass immer auch „Schwestern“ gemeint sind.

„Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht.“ – Sünden sollen wir nicht übersehen, bei uns selbst nicht und auch beim anderen nicht. Wenn wir glauben, den Bruder auf sein Vergehen ansprechen zu müssen, dann gilt es, ganz behutsam vorzugehen. Dazu braucht es ein Gespräch unter vier Augen. Und dabei gehören zwei Augen dem betroffenen Bruder – und nicht einem Dritten.

Anschuldigungen, die man uns zuträgt, die um drei oder vier Ecken herum zu uns kommen, dürfen wir ganz frei auch zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus lassen.

„Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.“ – Der andere ist ein Mensch wie wir: Er will grundsätzlich wie wir das Gute. Das gilt es nie zu vergessen. Der andere ist auch wie wir verletzlich; es könnte gut sein, dass er um seine Fehler weiss, vielleicht besser als wir.

Vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb es gar nicht so leicht ist, liebevoll auf den anderen zuzugehen – denn es könnte sich ja zeigen, dass er ist wie wir.

„Hört er aber nicht auf dich, dann nimm noch einen oder zwei Männer mit.“ – Die „brüderliche Zurechtweisung“, wie sie in der christlichen Tradition auch genannt wird, darf keine Ausrede sein, dass jemand den eigenen Frust billig am Mitmenschen auslässt. Damit das nicht geschieht, empfiehlt Matthäus, Zeugen mitzunehmen. Das macht die Kritik sachlich und sichert den Beschuldigten vor persönlicher Missgunst und Willkür.

„Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde.“ – Einen Fehler öffentlich zu machen, ist eine heikle Sache. Deshalb ist ein solcher Schritt erst dann angesagt, wenn alles andere nichts mehr fruchtet – und die Sache schwerwiegend ist.

Vorverurteilungen sind immer problematisch, gerade, wenn sie hinter vorgehaltener Hand geschehen. Jemanden verurteilen oder gar ausschliessen darf deshalb nur die Gemeinde als ganze.

„Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.“ – Erst, wenn mehrere Versuche anständiger und sachlicher Kritik fehl geschlagen haben, grenzt die Gemeinde des Matthäus einen Sünder aus.

Der ausgeschlossene Sünder ist dann der Gemeinde wie ein Heide oder ein Zöllner. Das tönt zwar hart. Es bedeutet aber die Anerkennung, dass der Sünder immer noch Mensch bleibt, und es geschieht im Glauben, dass Christus als Erlöser der Welt auch für Zöllner und Heiden gestorben ist.

Jesus selbst lehrt uns schliesslich, dass er gerade für die Zöllner und Sünder gekommen ist – und nicht für die 99 Gerechten, die es scheinbar nicht nötig haben, umzukehren. —

Wenn Matthäus der frühen christlichen Gemeinde vorschreiben muss, wie man einen fehlbaren Bruder anständig zurechtweist, dann müssen wir uns nicht schämen, wenn auch wir auf diesem Gebiet ungeübt sind und Fehler machen.

Doch es ergeht dann auch an uns die Einladung, Liebe und Barmherzigkeit walten zu lassen und vor jeder Kritik an anderen auch kritisch über die eigenen Bücher zu gehen.

Ein Spruch besagt: „Wer seinen Bruder beschuldigt, kann irren. Wer ihm vergibt, irrt nie.“

In einer Tagung der Lehrerinnen und Lehrer unseres Gymnasiums wurde vor Jahren einmal die Frage aufgeworfen, wie wir „mit schwierigen Kollegen“ umgehen sollen. Daraufhin sagte ein Lehrer, dass eigentlich alle von uns „schwierige Kollegen“ seien. Der erste Schritt zur Versöhnung sei es deshalb, sich selbst als konflikthaft und schwierig anzunehmen und nicht so zu tun, als ob nur der andere eine schwierige Person sei. Auf diese Wortmeldung wurde nicht weiter eingegangen.

Jesus Christus und Sigmund Freud haben eben doch Recht: Wir sind konflikthafte Wesen, und Jesus Christus ist nicht grundlos für uns ans Kreuz gegangen.

Für Christus ist es dann aber gar nicht so wichtig, ob wir Menschen nun konflikthaft sind oder nicht. Er ist überzeugt: Gott hat uns erschaffen und will unser Heil.

Es ist Christus auch nicht so wichtig, ob unsere Gemeinschaften konfliktgeladen sind oder nicht. Wichtig sind letztlich die Hoffnung auf seine Gegenwart und sein Erbarmen.

Genau das aber sagt er uns im heutigen Evangelium ausdrücklich zu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20.)

Amen.