P. Mauritius Honegger am 19. Sonntag im Jahreskreis 2023

13.08.2023

Liebe Mitchristen,

Wenn Sie am 1. August nicht gerade im Ausland in den Ferien waren, haben Sie sicher irgendwo die Nationalhymne gehört oder vielleicht sogar selber mitgesungen. Erinnern Sie sich noch an die vierte Strophe? – Sie beginnt mit: «Fährst im wilden Sturm daher» und später folgt «du allmächtig Waltender».

Der allmächtige Gott fährt also in einem wilden Sturm daher. Und heute in der Lesung haben wir exakt das Gegenteil gehört: «Der Herr war nicht im Sturm». – Ist das nicht erstaunlich, dass zwei Texte, die sich beide mit Gott befassen, zu völlig gegensätzlichen Aussagen kommen?

Leonhard Widmer, der Dichter unserer Nationalhymne, war offenbar überzeugt, dass man in der Natur die Spuren Gottes entdecken kann. Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. Schon der Apostel Paulus teilte diese Überzeugung, wie man im Römerbrief nachlesen kann: «Seit der Erschaffung der Welt kann die unsichtbare Wirklichkeit Gottes an den Werken der Schöpfung wahrgenommen werden» (vgl. Röm 1,20).

Viele von uns würden Leonhard Widmer wahrscheinlich auch darin zustimmen, dass die Schweizer Bergwelt ein privilegierter Ort ist, um die Spuren Gottes zu entdecken, um Gott zu erahnen, wie er es formuliert. Denn die im Schweizerpsalm beschriebenen Wetterstimmungen können uns wirklich ins Staunen versetzen. Wer schon einmal das Morgenrot oder das Abendglühn in den Alpen beobachtet hat, wer schon einmal von einem Gipfel auf ein Wolkenmeer hinuntergeschaut hat, den hat möglicherweise auch ein bisschen Ehrfurcht gepackt vor dem, der das alles erschaffen hat. Ja, sicher sind viele von uns einverstanden mit Leonhard Widmer und mit dem heiligen Paulus, wenn sie sagen, dass die Schönheit der Schöpfung uns etwas erahnen lässt über den unsichtbaren Schöpfer.

Aber eben, es gibt auch andere Meinungen, und eine solche haben wir in der heutigen Lesung aus dem alttestamentlichen Buch der Könige gehört: «Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm».

Ist Gott nun im Sturm oder ist er nicht im Sturm? Vielleicht finden wir aus diesem Dilemma heraus, indem wir uns fragen, welches Gottesbild uns die Natur vermittelt. Wenn wir an einem sonnigen Tag in die Schweizer Bergwelt blicken, sagen wir: «Das ist doch einfach grossartig, was Gott da erschaffen hat! Gott ist ein genialer Schöpfer». Solange es sonnig bleibt, werden wir ein positives Gottesbild haben.

Aber wie ist es, wenn das Wetter plötzlich umschlägt? Es herrscht ja nicht immer Postkartenwetter. Was für ein Bild von Gott machen wir uns, wenn wir die Überschwemmungen in Slowenien und Österreich sehen? Was für ein Gottesbild machen wir uns, wenn wir von den schlimmen Waldbränden im Oberwallis, auf den griechischen Inseln und auf Hawaii hören? Oder wenn wir an den Sturm denken, der diesen Sommer in La Chaux-de-Fonds derartige Zerstörungen hinterlassen hat, wie interpretieren wir dann die vierte Strophe unserer Nationalhymne: «Fährst im wilden Sturm daher»?

Die Lesung aus dem Buch der Könige mahnt uns zur Vorsicht: «Gott ist nicht im Sturm. Gott ist nicht im Feuer. Gott ist nicht im Erdbeben». Wir dürfen Gott nicht direkt mit der Natur identifizieren. Aber die zerstörerischen Kräfte der Natur, die die Lesung erwähnt – Erdbeben, Waldbrände, Gewitterstürme –, bleiben eine Herausforderung für eine monotheistische Religion wie das Christentum.

Wenn es nur einen Gott gibt, der alles erschaffen hat, dann ist er letztlich auch für alles verantwortlich. Warum aber lässt er dann so schlimme Dinge zu, von denen wir täglich in den Nachrichten hören? Ist das wirklich ein guter Gott? Wollen wir mit einem solchen Gott, der verantwortlich ist für all die Zerstörungen, überhaupt noch etwas zu tun haben?

Wie hilfreich ist da doch die Lesung aus dem Buch der Könige! Obwohl sie sicher schon zweieinhalb Tausend Jahre alt ist, können wir von ihr noch etwas lernen. Gott offenbart sich dem Propheten Elija nicht in den Naturgewalten, sondern auf ganz überraschende Weise: «in einem sanften, leisen Säuseln».

Und vielleicht merken wir jetzt, dass die Naturromantik von Leonhard Widmers Schweizerpsalm nicht ausreicht, um sich ein adäquates Bild von Gott zu machen. Natürlich kann eine fromme Seele in der Schönheit der Berge die Spuren des Schöpfers erahnen, – aber das ist nicht genug. Denn Gott ist eben immer auch der ganz andere. Er zeigt sich uns auf völlig unerwartete Weise.

So ist der Messias eben nicht – wie von den Juden erwartet – ein kraftvoller Anführer, der die Römer aus dem Land jagt. Nein, der Sohn Gottes zeigt sich uns auf überraschende Weise in der Wehrlosigkeit des Kindleins in der Krippe von Bethlehem. Seinen Sieg erringt er nicht mit Waffen und Armeen, sondern auf ganz paradoxe Weise in der Ohnmacht des Kreuzes.

Überraschend ist auch das Zeichen, mit dem er in Erinnerung bleiben will: Nicht mit Goldmünzen, auf denen sein Porträt abgebildet ist, sondern mit dem Alltäglichsten aller Dinge: in einem Stücklein Brot. Im Zeichen des Brotes liefert er sich in unsere Hände aus, um uns zu nähren, um uns Wachstum und Leben zu schenken, um uns nahe zu sein und uns ganz persönlich zu begegnen. «Tut dies zu meinem Gedächtnis!»

Gott ist allmächtig. In weniger als einer Sekunde könnte er unseren Planeten vernichten. Aber er tut es nicht. Er will uns auf eine ganz andere Weise begegnen. Nicht in den zerstörerischen Kräften müssen wir nach ihm suchen. Gott ist nicht im Sturm, nicht im Feuer und nicht im Erdbeben, sagt die Lesung. Sondern Gott kommt uns auf sanfte und leise Weise entgegen. Sein Wesen ist Sanftmut und Freundlichkeit. Er begegnet seinen Geschöpfen mit Wohlwollen und Liebe. Er will uns beistehen und helfen, unser gefährdetes Leben retten und behüten.

So ist es auch im heutigen Evangelium. Man könnte sagen: Jesus kommt im wilden Sturm daher. Aber er kommt, um den Jüngern in der Gefahr zu helfen und sie zu retten. Und als sie meinen, er sei ein Gespenst, sagt er zu ihnen: «Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!»

Vertrauen ist etwas Schwieriges, Zerbrechliches. Vertrauen aufzubauen, gelingt nur dort, wo man den Menschen mit Wohlwollen begegnet. Gott wirbt um unser Vertrauen. Darum begegnet er uns in Jesus Christus mit Güte und Barmherzigkeit. Wie dem Petrus streckt er uns die Hand entgegen, um uns in den Stürmen des Lebens beizustehen. Nehmen wir sein Angebot an! Verpassen wir diese Chance nicht! Denn in Jesus Christus ist Gott mit uns, bis ans Ende der Welt. Amen.