P. Jean-Sébastien Charrière am Fest Verklärung des Herrn 2023

06.08.2023

Liebe Schwestern und Brüder

Die heutige Geschichte der Verklärung wird von Matthäus, Markus und Lukas erzählt.[1] Sie steht am Anfang des letzten Wegs Jesu nach Jerusalem, dem Ort seiner Passion und seiner Auferstehung.

Kurz vor dem Tag der Verklärung, bevor er seine Passion für das erste Mal verkündet, hatte Jesus seine Jünger gefragt: «Für wen halten die Menschen den Menschensohn?» (Mt 16,13). Petrus gab die Antwort: «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!» (Mt 16,16). «Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel» antwortete Jesus. Diese Erkenntnis wird am Tag der Verklärung vom Himmel bestätigt: «Dieser ist mein geliebter Sohn». Die Identität Jesu und seine Bestimmung werden vor der Passion und Auferstehung erneut bestätigt.

Aber wer wurde verklärt an diesem Tag? Das Fest heisst zwar: «Verklärung Christi». Aber ist es tatsächlich Christus, der verklärt worden ist?

Nach den Evangelien gibt es im Leben Jesu einige Male ein «Vorher» und ein «Nachher». Zum Beispiel gibt es ein verborgenes Leben vor seiner Taufe und ein öffentliches Leben – erfüllt vom Heiligen Geist – nachher. Auch war die Meinung Jesu anders vor der Begegnung mit der heidnischen Syro-Phönizierin und nachher. Danach ist er bereit, auch für die Menschen zu wirken, die nicht zu den Kindern Israels gehören (siehe Mk 7,24ff.). Es gibt auch ein «Vor» seiner Passion und ein «Nach» seiner Grablegung: die Auferstehung.

Aber gibt es ein «Vor» und ein «Nach» der Verklärung? Hat sich etwas tatsächlich verändert bei Christus an jenem Tag? Der Brief an die Hebräer erinnert uns: «Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit» (Hebr 13,8). Er ist das Alpha und das Omega, gleichzeitig Anfang und Ende (vgl. Offb 22,13). Jesus selber bekannte: «Noch ehe Abraham wurde, bin ich» (Joh 8,57-58). Und «Licht» ist er von Anfang an, wie der Johannesprolog es verkündet: «Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.» (Joh 1,9-10). Nicht nur die Welt, sondern auch seine Jünger haben ihn nicht immer erkannt. Jesus sagte einmal zu Philippus: «Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt (…)? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.» (Joh 14, 9).

 

Es geht um eine Erkenntnis. Oft sehen wir nicht die Wirklichkeit, wie sie ist. Wir reduzieren die Wirklichkeit auf das, was wir wahrnehmen oder verstehen oder was die Messinstrumente uns melden. Aber unsere Sinne, unser Verstand und die Technik nehmen nur einen Bruchteil der Wirklichkeit wahr. Der französische Philosoph Henri-Louis Bergson sagte treffend: «Das Auge sieht nur, was der Geist bereit ist, zu begreifen.» Das heisst: Was wir nicht einordnen können, wird nicht aufgenommen. Paulus verweist in seinem Ersten Brief an die Korinther auf Stufen der Erkenntnis, wenn er schreibt: «Stückwerk ist unser Erkennen (…); wenn (…) das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war» (1 Kor 13,9-11). Es ist klar, dass Kind- oder Erwachsensein nicht zuerst mit dem Alter zu tun hat, sondern mit der Reife und Selbstständigkeit.

Persönlich denke ich, dass Christus nicht verklärt wurde. Er ist schon seit Ewigkeit Licht und Gott. Vielmehr denke ich, dass die Augen oder der Verstand der Jünger verklärt worden sind. Plötzlich haben sie, durch die Gabe des Heiligen Geistes, mehr von der Wirklichkeit wahrgenommen als sonst. Die Vernunft ist wichtig, sie genügt aber nicht, um die Wirklichkeit zu verstehen. Dies ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Wir erinnern uns an die Worte Jesu an Petrus: «Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel» (Mt 16,17).

Der russische Heiliger Seraphim von Sarov sagte, dass der Sinn unseres Lebens das Erlangen des Heiligen Geistes ist. Einmal, als er Nikolaj Alexandrowitsch Motovilov in einer Waldlichtung traf, geschah etwas Besonderes.

Starez Seraphim sagte zu Motovilov: «Warum schaust du mich nicht an?»

«Ich kann dich nicht ansehen, Vater. Blitze zucken aus deinen Augen. Dein Gesicht ist heller geworden als die Sonne. Es tut meinen Augen weh…»

Starez Seraphim antwortete: «Fürchte dich nicht, Freund Gottes. Du bist so strahlend geworden wie ich. Auch du bist jetzt in der Fülle des Heiligen Geistes, sonst hättest du mich nicht sehen können.»

Liebe Schwestern und Brüder

Das Fest der Verklärung erinnert uns daran, dass unser Blick verklärt werden muss. Dann würde auch die Welt sich verwandeln. Wenn unser Blick verklärt wird, dann würden wir das Wirken Gottes in der Schöpfung wahrnehmen. Wir würden uns bemühen, die Welt nicht auszubeuten oder zu verschmutzen. Wenn unser Blick verklärt wäre, dann würden wir in allen Mitmenschen, ohne Ausnahme, die Gegenwart Gottes erkennen, und ihnen als Brüder und Schwestern begegnen. Unser Egoismus würde verschwinden und auch das Wohl unserer Nächsten würde uns ein Anliegen sein.

Das alles sind Früchte des Heiligen Geistes. Eine Gabe, die Gott uns unbedingt schenken will. Sie verlangt aber, dass wir daran arbeiten und uns dafür vorbereiten, durch Gebet, Stille, geistliche Lesung und den Empfang der Sakramente, denn: «Selig, die ein reines Herz haben; sie werden Gott schauen» (Mt 5,8). AMEN.

[1] Mt 17, 1–9; Mk 9, 2–10; Lk 9, 28–36