P. Cyrill Bürgi am Fest Maria Aufnahme in den Himmel

15.08.2023

Liebe Brüder und Schwerstern im Herrn

Wir glauben, dass Jesus Christus Gott und Mensch war und ist – ganz Gott, ganz Mensch. Das ist eine Glaubenswahrheit, an der wir festhalten und grundsätzlich nicht in Frage stellen. Der sichere Glaube, dass Jesus eingeborener Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch den alles geschaffen ist, steht aber so nicht in der Bibel. Natürlich haben wir Anklänge davon – wenn Jesus von sich als dem Menschensohn oder als Gottessohn spricht, wenn er Gott seinen Vater nennt und sich als seinen Sohn bezeichnet. So eindeutig, wie wir das aber heute glauben, können wir es nicht in der Bibel lesen, sonst hätte man nicht gut sechs Jahrhunderte über diese Frage gestritten. Zugespitzt könnten wir sagen, dass der Glaube an Jesus als wahrer Mensch und wahrer Gott sei unbiblisch.

Nach der Zeit der Verfolgung hat man diese Fragen erstmals auf dem Konzil von Nizäa 325 beraten. Schon vorher gab es eine Denkströmung, die Jesus so ins Geistige erhob, dass sie seine Menschheit fast vergass. Eine Gegenbewegung unter Arius bestritt die wesenhafte Göttlichkeit Jesu. Auf dem Konzil von Ephesus 431 musste man klären, wie das zusammengeht, dass Jesus Gott und Mensch zugleich ist. Das Konzil von Chalzedon 451 definierte dann die hypostatische Einheit in Jesus: eine Person – zwei Naturen. Damit stellten sich aber neue Fragen, insbesondere nach dem Willen: Hat Jesus zwei Willen – einen göttlichen und einen menschlichen? Mit diesem Fragenkomplex beschäftigten sich noch mehrere Synoden und Konzilien bis mit dem 3. Konzil von Konstantinopel 680/1 Ruhe in diese Frage einkehrte. Als Synthese dieser Beratungen singt der Chor heute das Nizäno-Konstantinopolitanische Glau­bens­bekenntnis. Insgesamt hat es sechs Jahrhunderte und sechs ökumenische Kon­zi­lien gebraucht, um den Glauben, den wir heute fraglos und selbstverständlich bekennen, zu formu­lieren.

Warum erzähle ich Ihnen das? Jemand könnte nämlich behaupten, das heutige Festgeheimnis sei nicht biblisch. Dann müssen wir ihm zustimmen, weil es so nicht in der Bibel steht. Trotzdem dürfen wir glauben, dass der Kern des heutigen Festes auf dem Fundament der Bibel steht. Dieser Glaube ist auch apostolisch – nicht, weil die Apostel sich wörtlich darüber geäussert hätten, sondern weil sie uns den Glauben wie eine Knospe überliefert haben, die sich im Lauf der Jahrhunderte  zur schönen Blume entfaltet.

Uns ist eine Glaubensschatz gegeben, den wir als Glaubens­ge­meinschaft wie auch als einzelne Glaubende entdecken, bergen und entfalten können. Christus ist wie eine Knospe. In ihm ist alles vorhanden. Indem wir in Beziehung mit ihm treten, entdecken wir immer mehr. Die Knospe entfaltet sich zur Blume. Schritt für Schritt entdecken wir, was uns geschenkt ist, welche Schönheit, Güte und welches Potenzial im Glauben steckt. Wir stehen bezüglich der Entdeckung des Glaubens alle an verschiedenen Orten. Wir sind nicht da, um über die Knospe oder die Blume zu streiten, sondern einander im Glauben zu fördern, zu unterstützen auf die Weise, die einer gerade nötig hat. So schreibt Paulus an die Römer: «Nehmt den an, der im Glauben schwach ist, ohne mit ihm über Auf­fassungen zu streiten!» (Röm 14,1)! Dies gilt auch wenn andere glauben provozieren zu müssen. Auch wenn ein Medien­zentrum, das sich katholisch nennt und eine aufreisserische Artikelserie über Maria herausgegeben hat, worin sie behauptete, der Titel «Gottesgebärerin» sei nicht biblisch oder die Dogmatisierung des heutigen Fest­geheim­nisses sei politisch motiviert gewesen, müssen wir uns deswegen nicht verun­sichern lassen. Natürlich soll man sich gegen Unwahrheiten wehren und an der richtigen Stelle intervenieren, aber nicht so dass es gegen aussen lächerlich und innerhalb der Kirche peinlich wirkt. Auch wenn manche Schwierigkeiten mit gewissen Glaubensaussagen bekunden, so sind sie doch Glaubensgeschwister. Ob liberal oder konser­vativ, wir sind dazu da, einander aufzubauen, den Leib Christi zu bilden und gemeinsam in den Himmel zu kommen. Wenn wir uns gegen­seitig beschuldigen oder gar den Glauben ab­sprechen, ist das gegen Aussen und Innen abstossend. Unser Glaube ist aber sehr attraktiv, anziehend insbesondere das heutige Fest. Dieses Geheimnis gilt es, zu leben und zu feiern. Welche Religion hat denn ein solch positives Verhältnis zu allem Geschaffenen, zum Leib, zum Leben und zum Tod? Ich würde gar behaupten, dass ist das Alleinstellungsmerkmal der Christen.

Mariä Aufnahme in den Himmel erzählt davon, dass wir alle – nicht nur Maria – als ganze Menschen in leiblicher und geistiger Dimension bei Gott sein dürfen. Wie dieser Leib gestaltet sein wird, wissen wir nicht. Höchstens am Leib des Auferstandenen haben wir einen Vergleichspunkt. Jedenfalls dürfen wir uns nicht vorstellen, dass wir aus zwei Komponenten bestehen, die im Tod getrennt werden und im Himmel irgendwie wieder zusammenkommen. «Leib und Seele» ist eine Bezeichnung des ganzen Menschen, der ganzen Person, wie sie sich hier auf Erden oder eben auch im Himmel ausdrückt. Und genau diese Ausdrucksweise als ganzer Mensch ist attraktiv. Ich bin nicht gefragt wegen meines Körpers, meiner Schönheit, meiner Arbeitskraft oder Intelligenz. Ich darf mich als ganze Person, in all meinen Dimensionen, die mich ausmachen, geliebt wissen. Mein ganzes Sein verdient Respekt – hier auf Erde, sowie im Himmel. Das will besonders jenen ans Herz gelegt sein, die sich schwer tun, sich in allen Dimensionen als Mann oder Frau mit all den widersprüchlichen Empfindungen und Bedürfnissen, die damit einhergehen, anzunehmen.

Mit dem heutigen Festgeheimnis schwingt noch der Gedanke mit, dass Gott Maria im Himmel gekrönt habe. Das ist natürlich ein Bild, ein Bild dafür, dass Gott ihr eine spezifische Berufung übertragen hat. Auch diesen Aspekt dürfen wir mit uns in Verbindung bringen. Gott hat jedem eine persönliche Berufung über­tragen im Dienst für andere. Und diese Überzeugung ist doch ebenfalls attraktiv: Jeder – wer immer er sei – hat eine Aufgabe für andere. Sein Leben – wie immer geartet – hat einen Sinn. Das würde ich wieder zu einem christlichen Allein­stellungsmerkmal zählen, zu einen unique selling point. Was auch immer geschieht, alles macht Sinn in der Liebe Gottes. Jedes Leben hat einen Sinn, weil Gott an uns Grosses tut, grossartig handelt. Das gehört auch zum heutigen Fest: GOTT handelt. Unsere Würde ist nicht unsere Leistung, unser Ver­dienst. So sprechen wir auch besser von «Maria Aufnahme in den Himmel» – Gott nimmt sie auf – und nicht von «Maria Himmelfahrt» als ob sie selber in den Himmel hochgestiegen wäre.

Zusammengefasst als einzigartige Blume des Glaubens: Wenn wir das heutige Fest nicht hätten, wäre unser Glaube ärmer. Es würde Wesentliches fehlen: die Glaubensüberzeugung, dass Gott jeden vollendet als ganze Personen in allen Dimensionen, dass in seiner Liebe jedes Leben Sinn macht.
Das feiern wir heute am Beispiel Marias.