P. Philipp Steiner am Hochfest ULF von Einsiedeln 2023

16.07.2023

Liebe Brüder und Schwestern!

Wir feiern heute das Hochfest unserer Lieben Frau von Einsiedeln, bei welchem das uns so vertraute Gnadenbild der Schwarzen Madonna natürlich eine ganz besondere Rolle spielt. Wir feiern aber nicht die Holzstatue aus dem 15. Jahrhundert, sondern die Person, die sie darstellt: die Jungfrau und Gottesmutter Maria. Und wir feiern sie hier, an diesem ganz konkreten Ort, wo sie seit Jahrhunderten eine Stätte der Verehrung hat. Beide – Gnadenbild und Gnadenort – erinnern uns daran, dass der christliche Glaube nicht abstrakt bleibt, sondern sich wie das Ewige Wort des Vaters «inkarniert», indem er in Raum und Zeit Gestalt annimmt und damit fassbar wird. Gleichwohl müssen wir bei diesem Gedanken vorsichtig sein: Gnadenbild und Gnadenort sind nicht identisch mit der Gnade Gottes, seiner liebevollen, zärtlichen Zuwendung zu uns Menschen. Aber sie sind von Gott in Dienst genommene Werkzeuge, die diese Zuwendung konkret erfahrbar machen wollen, indem sie transzendent sind und über sich hinausweisen!

Daran werden wir auch erinnert, wenn wir die Schwarze Madonna, das Gnadenbild Unserer Lieben Frau von Einsiedeln, in Beziehung zum eben gehörten Evangelium setzen.  Denn es fällt uns zunächst eine Spannung auf: Während unser Gnadenbild Maria als glückliche, junge Mutter mit dem Kind auf dem Arm zeigt, stellt uns das eben gehörte Evangelium Maria unter dem Kreuz vor Augen, wie sie die letzten Worte ihres sterbenden Sohnes vernimmt.

Hätte man für das heutige Hochfest Unserer Lieben Frau von Einsiedeln nicht einen anderen, weniger brutalen Text wählen können? Alternativen gäbe es in den Evangelien tatsächlich einige: Das Evangelium von Marias Weg zu Elisabeth im Bergland von Judäa würde an Einsiedeln in den Schweizer Voralpen erinnern, die Erzählung von der Hochzeit zu Kana könnte eine Hommage an die hier in Einsiedeln noch immer lebendige Tradition des Klosterweines sein…

Doch das Evangelium von der Kreuzigung Jesu ist im Blick auf die Geschichte unseres Wallfahrtsortes bei näherer Betrachtung doch die beste Wahl. Denn bevor das kleine Gotteshaus an der Stelle der Meinradzelle zur Marienkapelle geworden ist, war sie eine Salvator-Kapelle, also Christus, dem Erlöser, geweiht und beherbergte wohl jenen Partikel des Heiligen Kreuzes, der noch heute im Kloster aufbewahrt wird. Zudem entdeckt der aufmerksame Betrachter des Gnadenbildes – freilich ohne eines der 37 festlichen Gewänder * – zwei Details am Jesuskind, die ebenfalls an die Passion erinnern: die gekreuzten Beinchen und den kleinen Vogel in der Hand des Knaben, der diesen mit seinem Schnabel in den Daumen zwickt. Bevor das Vögelchen ebenfalls schwarz geworden ist, war es für den Betrachter sofort als Distelfink erkennbar – und damit für den mittelalterlichen Menschen ebenfalls ein Passionssymbol, da sein rotes Köpfchen an das von der Dornenkrone blutüberströmte Haupt des Heilands erinnerte.

Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum wir heute gerade mit diesem Evangelium konfrontiert sind: Was bei einem oberflächlichen Blick als offensichtlicher Widerspruch zwischen Gnadenbild und Schrifttext erscheint, wird für den gläubigen Menschen sinnvoll, wenn man es unter dem Aspekt der Mutterschaft Mariens betrachtet.

Das Gnadenbild der Schwarzen Madonna zeigt uns Maria als Mutter Jesu, wie sie mit gütigem Blick auf uns schaut – als ob auch hier das Wort ihres Sohnes an sie ergeht: «Frau, siehe dein Sohn, siehe deine Tochter!». Marias Blick schweift deshalb nicht sinnierend in die Ferne oder richtet sich auf das Kind auf ihrem Arm, sondern ihr Blick trifft uns!

Das Evangelium von der Kreuzigung erzählt weiter, wie Jesus auf seine Mutter schaut und sie seinem Lieblingsjünger anvertraut. Doch Jesu Wort «Siehe, deine Mutter!» ist nicht nur an Johannes gerichtet. Es gilt vielmehr auch uns, jedem und jeder einzelnen von uns! War Maria zuvor noch die Mutter Jesu, die ihm treu auf seinem Weg nachgefolgt ist, so wird sie unter dem Kreuz zur Mutter aller, die Jesus nachfolgen. Sie wird Mutter der Kirche.

«Siehe, deine Mutter!» – das sagt Jesus im Evangelium zu Johannes und das ist auch seine Einladung an uns. Wir sind eingeladen, wie der Apostel Johannes, Maria bei uns aufzunehmen, sie in unser Leben einzulassen, sie zu einem Teil unseres Alltags und unseres Glaubensweges mit Jesus werden zu lassen. An sie dürfen wir immer wieder jene Bitte richten, welche wir Mönche jeden Abend im «Salve Regina» singen: «Zeige uns Jesus!». Dann dürfen wir darauf vertrauen, dass Maria uns ihren göttlichen Sohn nicht nur zeigt, sondern uns auch zu ihm führt.

Liebe Schwestern und Brüder!

Wie eingangs gesagt: Gnadenbild und Gnadenort sollen uns daran erinnern, dass der christliche Glaube nicht abstrakt bleibt, sondern in Raum und Zeit Gestalt annimmt und damit fassbar wird. Doch wir würden beim Vorletzten stehen bleiben, wenn wir nicht eine letzte Konsequenz daraus ziehen würden: Gnadenbild und Gnadenort laden uns ein, den Glauben an Jesus Christus, den Erlöser der Welt, auch in unserem Leben zu «inkarnieren».

Die Gottesmutter Maria als Unsere Liebe Frau von Einsiedeln ist nicht eine sanft lächelnde Dame im goldenen Wolkenkranz, sondern eine wirkliche Mutter, die von uns ziemlich viel fordert, weil sie mithelfen will, dass wir diejenigen werden, die wir nach Gottes Plan sein sollen: geliebte Kinder unseres Vaters im Himmel, missionarische Jüngerinnen und Jünger Jesu und lebendige Tempel des Heiligen Geistes.

Amen.

* Hier ein Foto des Gnadenbildes ohne Behang, auf dem man die gekreuzten Beinchen des Jesuskindes und den Distelfink in dessen Hand sehen kann: