P. Markus Steiner am 16. Sonntag im Jahreskreis 2023

23.07.2023

In welche Situation hinein hat Jesus diese Gleichnisse gesprochen? Der Evangelist gibt uns direkt keine Angaben. Er hat sie zusammen mit anderen Gleichnissen zu einer grossen Rede zusammengefügt, die Jesus am See gehalten haben soll. Wir müssen den konkreten Anlass also aus dem Kontext erschliessen. Die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauersteig wollen offensichtlich Mut machen. Jesus könnte sie also in einer Situation gesprochen haben ähnlich jener, als er zu seinen Jüngern sagte: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben“, wie es bei Lukas heisst (Lk 12, 32).

Das Gleichnis vom Unkraut hat einen anderen Akzent. Es rechnet bereits mit Widerstand. Bei Matthäus gehen schon die Weh-Rufe über die Städte am See voraus. Nach der Gleichnisrede wird von der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt berichtet. Vielleicht ist das Gleichnis auch zu allzu eifrigen Jüngern gesprochen worden, die zum Beispiel andere daran hindern wollten, Dämonen im Namen Jesu auszutreiben, weil sie nicht direkt Jesus nachfolgten (vgl. Mk 9, 38). Welches war die Situation, die der Evangelist vorfand, als er sein Evangelium schrieb? Die Juden hatten den Aufstand gegen die Römer gewagt und waren unterlegen. Der Tempel war zerstört. Die meisten der Richtungen im Judentum waren verschwunden, etwas die Sadduzäer oder die Zeloten. Geblieben waren allein die Pharisäer, die sich zum rabbinischen Judentum weiterentwickelten, und die Christen. Das Matthäusevangelium ist geprägt von der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Gruppen. Das Evangelium hatte sich also nicht einfach durchgesetzt. Da brauchte es wieder die Ermutigung, dass aus kleinen Anfängen Grosses werden kann. Aber vielleicht hätte der Evangelist bei seiner Polemik gegen die Pharisäer auch ein wenig stärker auf das Wort Jesu hören können, dass man nicht versuchen soll das Unkraut auszureissen, bevor die Stunde der Ernte gekommen ist. Wie ging es in der Geschichte der Kirche weiter? Natürlich gab es da die verschiedensten Situationen, in denen die Gleichnisse verschieden wirkten. Zwei Dinge möchte ich hervorheben. Einmal konnte man diese Geschichte als grossartige Bestätigung der Gleichnisse deuten. Aus dem kleinen Samenkorn hatte sich ein riesiger Baum entwickelt. Aber man ist auch der Versuchung erlegen, das Himmelreich mit Gewalt durchsetzen zu wollen, gegen die ausdrückliche Absicht Jesu. Und in welcher Situation finden uns die Gleichnisse heute? Wir sind nicht in Gefahr, dem Himmelreich mit Folter und Todesstrafe nachhelfen zu wollen. Aber vielleicht sollten sich alle engagierten Christen welcher Ausrichtung auch immer doch vermehrt bewusst sein, dass auch wir nicht immer richtig zwischen Weizen und Unkraut unterschieden können, und darum mit unserem Urteil über andere vorsichtig sein müssen.

Sodann erleben wir, dass von dem grossen Baume immer mehr Äste wegbrechen, dass der Sauerteig seine Kraft verloren zu haben scheint. Werden dadurch die Gleichnisse widerlegt? Vielleicht müssen wir unseren Blickwinkel ändern. Das Himmelreich und die Kirche sind nicht einfach identisch. Es wächst auch einiger Weizen ausserhalb der sichtbaren Kirche. Und blicken wir über unsere europäischen Grenzen hinaus. In anderen Gebieten ist der Baum durchaus am Wachsen und trägt Früchte. Aber auch für uns hier und heute dürfen wir das Gleichnis des Herrn fortschreiben: Bäume müssen immer wieder beschnitten werden, damit ihre Kraft erhalten bleibt und sie wieder mehr Frucht bringen. Jesus selbst hat dafür das Bild von der Rebe benutzt (vgl. Joh 15, 1 f). Zurechtgestutzt zu werden ist nicht angenehm. Aber lassen wir die Gleichnisse des Herrn, die schon den Jüngern, den ersten Christen und immer wieder der Kirche Mut gemacht haben, auch in unsere Situation hineinwirken.