
P. Daniel Emmenegger am 14. Sonntag im Jahreskreis
«Fahrlässige Gedankenspiele über Atomschlag. In Russland werden die Stimmen lauter, die eine nukleare Eskalation der Konfrontation [in der Ukraine] für unvermeidlich und gar sinnvoll halten». – So lautete in der vergangenen Woche die Überschrift eines Artikels in der «Neuen Zürcher Zeitung».
Man geht sicher nicht fehl, wenn man annimmt, dass solche Sätze uns alle beunruhigen, ja Angst machen. Dies wohl vor allem deshalb, weil dieser Krieg so nahe ist, gleichsam vor unserer Haustür tobt und eine nukleare Eskalation uns selbst ganz unmittelbar bedroht.
Diese «machtvolle Gefahr» oder «gefährliche Macht» hat bei uns aktuell und im Allgemeinen ein konkretes Gesicht, gar einen Namen: Putin. Das verleitet zur naiven Annahme, dass wir «Frieden» hätten, wenn der Mann im Kreml weg wäre – zumindest glauben wir, die erwähnte Gefahr wäre damit gebannt. Wenn aber «Putin» nun für diese uns unmittelbar bedrohende Macht steht, dann dürfen wir nicht übersehen, dass dieser «Putin» mit dem gleichnamigen Menschen im Kreml nicht einfach identisch ist. Macht, die uns bedroht und unterdrückt, also «Putins» in diesem Sinne, gibt es nicht erst heute. Und heute gibt es solche «Putins» nicht nur in Russland. Sie gibt es auch nicht nur auf staatlicher Ebene. «Putins» gibt es auch in der Wirtschaft, in Gesellschaften und Vereinen. Es gibt sie in Familien und selbst inmitten der Kirche. «Putins» sind keineswegs nur männlich. Und: Es sind nicht nur die anderen.
Auch Jesus hat «Putin» schon gekannt, wenn er zu seinen Jüngern sagt: «Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Grossen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen», also miss-brauchen (Mt 20,25). Aber Jesus scheint das nicht sonderlich zu beeindrucken. Warum auch? Im Evangelium, das uns vorhin verkündet wurde, preist er den, der wirklich mächtig ist; den, der «Herr» ist über Himmel und Erde. Ferner sagt Jesus, dass niemand diesen «Herrn des Himmels und der Erde» kennt, ausser er – Jesus – selbst und dass ihn darüber hinaus nur erkennen kann, wem er – Jesus – es offenbart. Ganz offensichtlich steht Jesus dem «Herrn des Himmels und der Erde» sehr nahe – so nahe, dass er diesen Herrn «Vater» nennt und sich selbst «Sohn». Es ist eine «göttliche Nähe». So jemand braucht sich von herrscherlichem Gebaren irgendwelcher «Putins», ob klein oder gross, nicht sonderlich beeindrucken zu lassen.
Bedenken wir nun aber, wie der «Herr des Himmels und der Erde», wie ihn uns das Evangelium eben in der Person Jesu zeigt, angekündigt wird. Erinnern Sie sich noch an die Worte des Propheten Sachárja, die wir in der Lesung vernommen haben? – «Dein König … reitet auf einem Esel», hiess es dort (Sach 9,9). Welch ein Gegensatz zum Denken unserer Welt; welch ein Gegensatz zu einem «putin’schen» Denken! Ja, ein «König», «Herr des Himmels und der Erde», aber eben ohne Ross, ohne Streitwagen und Kriegsbogen (Sach 9,10); ohne Armee, ohne Panzer, ohne Kampfflugzeuge und ohne nukleare Waffen – sondern auf einem Esel! Man muss sich das einmal vergegenwärtigen. Würden Sie erwarten, dass Gott als Mensch (und um ihn handelt es sich im Falle Jesu!) auf einem Esel dahergeritten kommt? Auf einem Lasttier? Das wäre, wie wenn er – Gott! – heute, in unserer Zeit mit einem Lieferwagen umherfahren würde. Und doch wird uns seit zweitausend Jahren gesagt: Das ist Gott, der sich uns in Jesus offenbart – «gütig und von Herzen demütig» (Mt 11,29).
Diese Demut – Gottes Demut! – sucht auf Seiten des Menschen nach einer Entsprechung – und findet diese ganz gewiss nicht in irgendwelchem «putin’schem Machtgehabe», ob im Kleinen oder Grossen. Vielmehr nennt das heutige Evangelium diese Entsprechung «Unmündigkeit»: «Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den … Unmündigen offenbart hast» (Mt 11,25). «Unmündigkeit» steht hier im Gegensatz zu «weise und klug». Sie bedeutet ein Frei-Sein von einem vermeintlichen (theologischen) Wissen über Gott und einem vermeintlichen Verstanden-Haben, wie Gott ist und wie er sich zeigt; einem «Wissen» und «Verstanden-Haben», das der wirklichen Erkenntnis des wirklichen Gottes im Wege steht und sie verunmöglicht. Gott zeigt sich dann auf völlig andere Weise, als man es sich aufgrund des vermeintlichen Wissens und Verstanden-Habens ausgerechnet hat – man rechnet sich eben nicht aus, dass er auf einem Esel daherkommt, ganz abgesehen davon, dass man ihn wohl gar nicht erst als Mensch in unserer Welt erwartet und dann noch als einen, der zuletzt am Kreuz landet! Bitte beachten Sie: So wenig der vermeintlich «Wissende und Kluge» ein Gebildeter sein muss, so wenig muss umgekehrt der «Unmündige» ein Ungebildeter sein. Aber die Bildung des «Unmündigen» steht der wirklichen Erkenntnis Gottes nicht im Wege.
Gottes Demut sucht auf Seiten des Menschen solche «Unmündigkeit». Hier nun können wir uns fragen, wie es bei uns selbst darum steht – gerade angesichts dessen, was wir jetzt miteinander feiern. Jesus, der Gott kennt und ihn uns offenbart, kommt nun auch zu uns. Nicht auf einem Esel, aber in der unscheinbaren Gestalt einer Hostie. Er kommt, um uns zu «erquicken» (vgl. Mt 11,28). Bedenken wir: Es ist der «Herr des Himmels und der Erde», der sich so uns gleichsam «einverleibt»; Er, der sich von keinen «Putins» dieser Welt beeindrucken lassen muss. Er, der Gott «Vater» nennt und der uns – heute! – zuruft: «Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid … und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele» (Mt 11,28f.). Wenn wir in unserer «Unmündigkeit» wirklich glauben, dem Gesicht Gottes in unserer Welt – Jesus – wirklich trauen: Kann uns dann die eingangs erwähnte «machtvolle Gefahr», welches Gesicht und welchen Namen auch immer wir ihr geben und so beängstigend sie auch sein mag – kann uns solche Gefahr dieser von Gott geschenkten Ruhe in der Tiefe unserer Seele grundsätzlich berauben?
«Treu ist der Herr in seinen Reden,
und heilig in all seinen Werken.
Der Herr stützt alle, die fallen,
er richtet alle auf, die gebeugt sind» (Ps 145 (144), 13c-14).
Amen.