P. Mauritius Honegger am Fünften Sonntag der Osterzeit 2023

07.05.2023

Liebe Mitchristen, besonders: liebe Pilgerinnen und Pilger aus dem Kanton Luzern

Viele von Ihnen haben heute einen langen Weg zurückgelegt, um an diesem Gottesdienst teilzunehmen. Vielleicht war Ihr Weg eine Autobahn oder sonst eine asphaltierte Strasse. Vielleicht war Ihr Weg aber auch ein Trampelpfad, quer durch Wiesen und Wälder. Einige haben, glaub ich, den Velostreifen gewählt, andere das sichere Geleise der Südostbahn.

Unter einem Weg stellen wir uns normalerweise eine Strasse, einen Fuss- oder Veloweg vor. Im heutigen Evangelium haben wir aber noch auf andere Weise von einem Weg gehört. Jesus Christus spricht von sich selber als dem Weg. Und wir fragen uns vielleicht: Wie ist es möglich, dass eine Person ein Weg ist?

Die heute gehörte Selbstaussage Jesu «Ich bin der Weg» ist etwa gleich schwierig zu deuten wie die damit verwandte «Ich bin die Tür»-Aussage. Beide gehören zu den berühmten «Ich-bin»-Worten des Johannesevangeliums. Dass ein Mensch ein Weg sein soll, ist doch irgendwie erstaunlich. Vielmehr sind wir das Gegenteil gewohnt: dass ein Mensch im Weg steht, das Weiterkommen behindert, die Tür versperrt.

So wie jetzt im Frühling, wenn wieder die Alpaufzüge stattfinden, bei denen es vorkommen kann, dass Kühe, Schafe, Geissen oder Hunde auf der Strasse stehen und den Verkehr blockieren. Wie das Vieh auf der Strasse, so können auch Menschen ein Hindernis auf dem Weg sein, auf dem ich vorankommen will. Entweder muss ich warten oder «aus dem Weg» rufen oder ausweichen und einen Umweg machen.

Menschen können Hindernisse sein. Aber können sie auch ein Weg sein? Wie ist das zu verstehen, wenn Jesus sagt: «Ich bin der Weg»?

Auch ein Lehrer ist ein Hindernis zwischen seiner Schulklasse und der Schulzimmertür, die hinausführt auf den Pausenplatz. Aber wenn es um das Lernen geht, wenn es um die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler geht, wenn es um schwierige Aufgaben geht und ganz allgemein um den Ausbildungsweg der Kinder und Jugendlichen, dann ist die Lehrerin oder der Lehrer hoffentlich kein Hindernis, sondern der entscheidende Wegbereiter, die Person, die die Kinder im Leben weiterbringt, auf ihre Aufgaben im Beruf und in der Gesellschaft vorbereitet.

Oder wenn man ein schwieriges Problem hat und mit jemandem darüber reden kann, dann ist es in diesem Moment doch völlig nebensächlich, ob diese Person als Hindernis vor dem Fenster steht und mir die Aussicht versperrt. In diesem Moment zählt einzig und allein, dass da jemand ist, der zuhört, der mir vielleicht helfen kann bei meinem Problem oder mich zumindest nicht alleine lässt in dieser schwierigen Situation. Wir sehen: Der Ausweg kommt durch den Freund oder die Freundin. Auf diese Weise sind Menschen eben auch Wege, die weiterführen, die herausführen aus der Enge des eigenen Ichs, die helfen, bei einem Tunnelblick Türen zu öffnen.

Damit Menschen zu solchen weiterführenden Wegen werden können, ist es notwendig, dass wir ihnen als Personen begegnen, dass wir sie nicht nur äusserlich betrachten, sondern ihre geistig-seelische Tiefe entdecken. Wenn sich uns eine Person im Gespräch öffnet, dann geht uns eine Welt auf: ein unglaublicher Reichtum an Lebenserfahrungen! Jeder Mensch ist nach dem Abbild Gottes geschaffen. Jeder Mensch ist einzigartig und einmalig. In jedem Menschen scheint ein Funke des göttlichen Lebens auf. Durch jeden Menschen kommen wir dem Geheimnis Gottes ein bisschen näher.

«Ich bin der Weg» sagt Jesus im heutigen Evangelium. Nicht zufällig verknüpft er diese Selbstaussage aber noch mit einem anderen Begriff: «Ich bin der Weg und die Wahrheit». Gemäss einer Aussage des Hebräerbriefs ist Jesus Christus «in allem uns gleich ausser der Sünde». Bei Jesus Christus gibt es keine Sünde, keine böse Absicht, keine Lüge oder Unaufrichtigkeit. Pilatus wird ihn einmal fragen «Was ist Wahrheit?», ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Er steht vor dem, der die Wahrheit ist, und merkt es nicht. Scheinbar dachte er, das gibt es gar nicht: Wahrheit.

Damit wir für unsere Mitmenschen nicht Sackgassen sind, sondern weiterführende Wege, müssen auch wir uns um die Wahrheit bemühen. Personale Begegnung kann nur geschehen, wo es Wahrheit gibt. Die geistig-seelische Dimension eines Menschen öffnet sich nur in der Wahrheit.

Ein Blick auf die Bedeutung des Begriffs in den biblischen Sprachen kann uns helfen, noch etwas besser zu verstehen, was mit Wahrheit gemeint ist und wie wir uns um sie bemühen können. Das griechische Wort für Wahrheit ist eigentlich ein verneintes Wort: Das Nicht-Verborgen-Sein, die Unverhülltheit.

Sich um Wahrheit bemühen, heisst in diesem Sinn also vor allem Transparenz: Die unangenehmen Seiten des Lebens nicht verbergen wollen. Nicht so, wie in den sozialen Medien nur Fotos von lachenden Gesichtern zu sehen sind, sondern Wahrheit bedeutet eben auch, Versagen, Schmerz, Leid, Schuld nicht zu verdrängen, sondern im persönlichen Gespräch ans Licht zu bringen. Dazu braucht es aber einen geschützten Rahmen, dazu braucht es tragende und vertrauensvolle Beziehungen.

Genau auf diesen Gesichtspunkt verweist uns das hebräische Wort für Wahrheit, «Emet», das sowohl mit Wahrheit als auch mit Treue übersetzt werden kann. Wenn Jesus sagt, ich bin die Wahrheit, dann heisst das auch, dass er treu ist, zuverlässig, vertrauenswürdig, dass er zu dem steht, was er sagt. Er hält sein Wort. Auf Jesus Christus kann man sich verlassen.

Wahrheit als Transparenz und Treue. Wenn wir uns um Ehrlichkeit bemühen und man sich auf unsere Worte verlassen kann, dann sind wir auf einem guten Weg und werden auch für unsere Mitmenschen zu Wegbereitern werden, zu weiterführenden Wegen, die sie im Leben weiterbringen in ihrer Entwicklung, auch durch schwierige Situationen hindurch.

Jesus Christus ist der Weg, der durch die Wahrheit zum Leben führt. Ergreifen wir diese Chance! Lassen wir uns auf die persönliche Begegnung mit ihm ein! In der Feier der Sakramente, im Nachdenken über seine Worte, im persönlichen Beten. Jesus Christus kann uns weiterbringen im Leben! Er kann uns Türen öffnen und neue Wege zeigen. Er will, dass wir das Leben in Fülle haben. Er will uns immer mehr in liebende Menschen verwandeln, in Menschen, die transparent sind für Gott. Jesus Christus will uns zu Seitenstrassen machen, zu Zubringern auf die Autobahn, die er selber ist und zum Vater führt. Amen.