P. Daniel Emmenegger an Christi Himmelfahrt 2023

18.05.2023

Sie hätten es doch eigentlich wissen müssen, die Jünger! Zumindest hätten sie es erahnen können: Es kann doch nicht darum gehen, in dieser Zeit das Reich für Israel wiederherzustellen (Apg 1,6)! Ganz abgesehen davon, dass eine derartige Hoffnung schon einmal zerschellte (nämlich am Kreuz!), so hätten die Jünger doch aufgrund ihrer Begegnungen mit dem leibhaft Auferstandenen erahnen können, dass es um mehr und umfassenderes gehen muss. In diesen Begegnungen haben sie den Auferstandenen gehört, gesehen, geschaut, gar angefasst; und doch blieben sie unsicher: «Einige hatten Zweifel …. als sie Jesus sahen», haben wir eben im Abschnitt aus dem Matthäusevangelium gehört (Mt 28,17). Was sich den Jüngern hier zeigte, war offenbar derart neu, dass sie es nicht einordnen konnten; sie konnten es nicht auf etwas schon Bekanntes zurückführen. Also hätten sie doch ahnen können, dass das, was jetzt geschehen soll, ihre begrenzten Vorstellungen ein klein wenig sprengen könnte – auch jene eines «sichtbaren irdischen Reiches Israel in der Zeit». Wie konnten sie Jesus so etwas fragen, die Viri Galilaei – die Männer von Galiläa!? Es erscheint fast folgerichtig, dass der leibhaft Auferstandene emporgehoben und von einer Wolke den menschlichen Blicken der Jünger entzogen wurde (vgl. Apg 1,9). Ihre Hoffnung auf die Wiederherstellung des irdischen Reiches Israel zerschellt gleichsam ein zweites mal.

Darf sich dafür der Autor eines Buches freuen, das gegenwärtig da und dort diskutiert wird und den ich einen Vertreter und Verfechter der klassischen Aufklärung nennen möchte? Denn in seinem Buch ist folgender Satz zu lesen: «Wenn das ‘Reich Gottes’ gepredigt wird, dann kann der moderne Staat das tolerieren, solange es irgendwie metaphorisch, also spirituell und innerlich gemeint ist […]»[1] Soweit das Zitat. Und tatsächlich: Wenn der Auferstandene sich den Blicken der Menschen entzogen hat, kann man Ihn nicht mehr hören, sehen, schauen oder gar anfassen. Der Auferstandene bleibt in der Welt nun irgendwie unsichtbar und ungreifbar. Wenn Jesus zudem auf das Kommen des Heiligen Geistes verweist, kann man hier durchaus eine «spirituell-innerliche» Dimension des nachösterlichen bzw. «nachpfingstlichen» Glaubens an Jesus Christus heraushören. Kann sich der Verfechter der klassischen Aufklärung also freuen, während die Hoffnung der Jünger auf die Wiederherstellung des irdischen Reiches Israel zerschellt?

Hier müssen wir nun freilich aufpassen, dass entscheidende Dinge nicht übersehen werden. Schon in der Lesung aus der Apostelgeschichte wurde nämlich deutlich, dass der Heilige Geist eine Kraft ist, die zum Zeugnis befähigt. Das aber heisst: Er verschafft sich in Welt und Zeit irgendwie Ausdruck und ist keineswegs nur «innerlich». Noch deutlicher ist ein Abschnitt aus dem ersten Kapitel des Epheserbriefes, der als Zweite Lesung für die heutige Messfeier ebenfalls vorgesehen wäre, nach vorwiegend deutsch-schweizerischem Usus aber nicht auch noch vorgetragen wurde (Eph 1,17-23). Demnach erleuchtet der Heilige Geist die Augen des Herzens (Eph 1,18), damit wir sehen können, was mit blossem, leiblichem Auge nicht zu sehen ist. Und was ist das? – Es gilt zu sehen, dass Christi Auffahrt in den Himmel kein Rückzug aus der Welt ist, sondern eine Erhöhung – Erhöhung zu Gott; Erhöhung über alle Fürsten, Gewalten, Mächte, Herrschaften; Erhöhung über jeden auch noch so prominenten und vermeintlich wichtigen Namen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Eph 1,20-21) – Erhöhung also über Welt und Zeit. Das ist etwas völlig anderes als ein Rückzug. «Rückzug» hiesse, dass Christus die Welt egal ist; dass Er die Welt sich selbst überlässt – und mit ihr uns Menschen. «Erhöhung» heisst, dass Er über diese Welt herrscht – und zwar auf eine heilende und erlösende Weise, was Er als Mensch in unserer Welt nach dem Zeugnis der Schrift zur genüge gezeigt hat, nicht zuletzt in Seiner «ersten Erhöhung» am Kreuz.

Wer über die ganze Welt heilend und erlösend herrscht, braucht in der Welt kein Reich mehr aufzubauen oder wiederherzustellen, das in irgendeiner Weise in Konkurrenz mit anderen irdischen Reichen und Herrschaften stehen und von diesen bedroht werden könnte. Wenn der vorher zitierte Verfechter der klassischen Aufklärung sich dagegen verwehrt, die Predigt des «Reiches Gottes» als «Aufruf zur politischen Gottesherrschaft»[2] zu verstehen – darauf zielt seine Aussage –, dann können wir hier zustimmen; aber nicht, weil wir im gleichen Sinne «aufgeklärt» wären, sondern weil wir um die eigentliche, einzige, wirkliche, heilende und erlösende Gottesherrschaft wissen!

Wenn sich nun aber diese heilende und erlösende Gottesherrschaft nicht in einem irdischen (politischen) Reich manifestiert, zeigt sie sich dann überhaupt irgendwie? Ist sie für uns wahrnehmbar? Ist sie hörbar, sichtbar, schaubar, gar anfassbar? Die Antwort, die uns der Epheserbrief gibt, lautet klar und eindeutig: Ja! Denn der erhöhte Christus hat in Welt und Zeit einen Leib. Wie sollte es auch anders sein, wenn Christus erstens nach dem Zeugnis der Schrift leibhaft erhöht worden ist und wenn zweitens Erhöhung eben kein Rückzug bedeutet!? In Welt und Zeit manifestiert sich sein Leib als Kirche; die Kirche ist sein Leib (Eph 1,23). Und wenn Christus im heutigen Evangelium zu seinen Aposteln sagt: «Geht zu allen Völkern; macht alle Menschen zu meinen Jüngern, weil mir alle Macht gegeben ist im Himmel und auf der Erde» (Mt 28,19.18), dann bestätigt Er, dass die Kirche als sein Leib eben gerade nicht identisch ist mit irgendeinem irdischen (politischen) Reich: Mit keinem Staat, mit keiner Nation, mit keinem bestimmten Volk, mit keiner bestimmten Kultur und auch nicht mit einer bestimmten Partei! Vielmehr hat Christus ja alle Macht, alles in sich einzuverleiben – was dann allerdings weder im Sinne von «Uniformität» noch im Sinne von «Diversity» missverstanden werden darf.

Wo aber ist nun Christi Leib als Kirche hörbar, sichtbar, vielleicht gar anfassbar; wo ist Kirche also konkret? Die Antwort: Sie ist hier und zwar jetzt – in diesem Raum zu exakt diesem Zeitpunkt. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie alle hier sind, weil Sie an Christus glauben und sich deshalb auch haben taufen lassen bzw. Ihre Taufe durch Ihren aktiven Glauben nun gleichsam «verifizieren». Unter dieser Voraussetzung sehen wir die Kirche hier und jetzt leibhaft vor uns. Falls Sie Zweifel haben, dann geht es Ihnen vielleicht wie jenen Jüngern, die den Auferstandenen leibhaft vor ihren Augen gesehen haben und dennoch Zweifel hatten. Wir erinnern uns aber: Mit dem blossen, leiblichen Auge sieht man hier zu wenig. Es sind die Augen unserer Herzen, die erleuchtet werden müssen. Und diese Erleuchtung schenkt der Heilige Geist. Es ist derselbe Geist, der auch zum Zeugnis befähigt. Wenn Sie alle sich dazu befähigen lassen und mit dieser Befähigung in die Welt hinaus gehen und sie wie einen Sauerteig durchdringen, dann wird auch die Gottesherrschaft Jesu Christi in Welt und Zeit nicht ohne politische Folgen bleiben – heilend und erlösend.

Darüber werden sich nicht alle freuen. Mit Widerstand ist zu rechnen. Aber wie können wir schweigen nach dem, was wir hier hören und sehen? Wie können wir schweigen, wenn wir gewiss sind, dass Christus leibhaft unter uns ist «alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28,20)? Wie können wir schweigen, wenn wir wissen, dass alle Menschen «Gottes-würdig» sind und wir diejenigen sind, die es ihnen sagen dürfen? – Veni, Sancte Spiritus! Amen.

[1] Norbert Bolz: Der alte, weisse Mann. Sündenbock der Nation, Regensburg 2023, S. 161.

[2] Norbert Bolz: Der alte, weisse Mann. Sündenbock der Nation, Regensburg 2023, S. 161.