
P. Theo Flury am Palmsonntag 2023
In einem Artikel zum Thema «Völker in der Bibel» finden sich einundfünfzig Namen von Stämmen, die wir heute kaum mehr kennen. Sie sind entweder erloschen oder in anderen, grösseren Volksgemeinschaften aufgegangen. Eine Angabe aber sticht hervor: der Hinweise auf das Volk der Hebräer, später Israeliten genannt, und noch später Juden. Trotz Verfolgung und Zerstreuung sind sie bis heute geblieben. Weshalb? Vielleicht hängt diese Tatsache nicht zuletzt mit der wöchentlichen Feier des Sabbats zusammen, bei der die Geschichte der Befreiungstat Gottes, des Auszugs aus Ägypten, erzählt, verinnerlicht und weitergegeben wird. Der Sabbat stiftet Identität, Orientierung, Interpretation des Lebens und Sinn. Auch wir Christen feiern an jedem Sonntag die für uns entscheidendste Tat Gottes, das Geschehen am Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi. Die gottesdienstliche Feier ist wichtig, weil in ihr etwas vergegenwärtigt, verlebendigt und angeeignet wird.
Die drei Heiligen Tage, die Zeit vom Hohen Donnerstag bis an Ostern also, auf die wir uns nun vorbereiten, sind Höhepunkte in der gottesdienstlichen Agenda. Weiter gibt es nicht nur die sogenannten geprägten Zeiten im Kirchenjahr – den Advent, die Zeit der Erwartung und der Vorbereitung auf die Erscheinung des Sohnes Gottes im Fleisch, dann den Weihnachtsfestkreis, die österliche Busszeit, auch Fastenzeit genannt, eine Zeit der Standortbestimmung und der Neuorientierung, und schliesslich den Osterfestkreis, der mit Pfingsten, der Ausgiessung des Heiligen Geistes, endet. Es gibt, darüber hinaus, auch das wöchentliche Gedächtnis von Karfreitag am Freitag und von Ostern am Sonntag, die Gedenktage der Heiligen und die Tage ohne Bezug zu einem besonderen Ereignis oder einer besonderen Person der Heilsgeschichte.
Die gottesdienstlichen Feiern stiften nicht nur Identität und Sinn, sondern holen entlegene Orte und vergangene Zeiten hinein in die Gegenwart. Unser verstorbener P. Daniel selig erklärte mir einmal, dass in der vorkonziliaren Liturgie am Palmsonntag von aussen laut an die Kirchentüre geklopft worden sei, ehe diese von innen geöffnet wurde und die Prozession einziehen konnte. Die Kirchentüre sei ein Symbol für das Stadttor Jerusalems gewesen, und man habe gewusst: ab jetzt bis an Ostern sei man nicht mehr in Einsiedeln, sondern in Jerusalem zur Zeit Jesu.
Das gefeierte Gedächtnis holt die Vergangenheit hinein ins Heute; die Zeiten verschieben sich ineinander. Jesus Christus war nicht nur, sondern er ist. Dass er stets im Heute lebt, in seiner Mitte west und wirkt, ist jedoch nicht zuerst dem gottesdienstlichen Tun an sich zu verdanken, sondern, zuvor, grundlegend, der Auferstehung Jesu als einer Antwort Gottes auf das Leben, Leiden und Sterben seines Sohnes. Sie ist Ausdruck eines gewaltigen göttlich – schöpferischen Eingreifens, das alle Erwartungen und Vorstellungen durchkreuzt, Bekanntes auf den Kopf stellt und sich menschlichem Begreifen entzieht.
Wir treten mit dem Palmsonntag in die Karwoche ein. Beginnen wir also froh den Weg hinein ins ewige Heute Gottes, der auch uns zum Licht von Ostern führen will. «Siehe, ich mache alles neu» (Offb 21,5). Amen.