
P. Theo Flury zum Zweiten Fastensonntag 2023
Auf einem hohen Berg sieht man in die Weite und ist dem Alltag enthoben; man kann sich ausruhen und den wunderbaren Ausblick geniessen. Doch der Berggipfel ist ein Endpunkt, der Weg geht nicht mehr weiter. Ein Verbleiben wäre gleichbedeutend mit Stillstand und, über kurz oder lang, wohl mit Langeweile. Der Wunsch der Jünger, auf dem Tabor Hütten zu bauen und sich hier auf Dauer niederzulassen, ist eine Falle: Die Verklärungsszene nimmt nämlich zeichenhaft etwas Wichtigeres voraus, das nicht hier geschehen wird, sondern in Jerusalem während der drei Tage vom Abend des Hohen Donnerstags bis zum Ostermorgen. Gestärkt durch die lichtvolle Erfahrung in der Höhe, müssen die Jünger den Abstieg wagen und ihrem Meister nach Jerusalem folgen, den Abstieg hinunter in ein Tal mit vielen Schatten und holprigen Wegen, in ein Tal voller Schlamm und Morast.
Steine und Schmutz sind die Widerwärtigkeiten des Lebens, die uns ausrutschen lassen und zu Fall bringen, uns aber auch wachsen und reifen lassen können. Viele von ihnen sind die Folgen der leichten Verführbarkeit von uns Menschen durch Kräfte, die uns durcheinanderbringen und von dem abbringen wollen, was uns guttut – letztlich von der Ausrichtung auf Gott, von unserem Ziel. Das Ergebnis dieser Verquickung nennen wir gemeinhin Sünde; ein Wort, das wir heute allerdings oft nicht mehr unmittelbar verstehen. Eine andere Wortgruppe hingegen ist derzeit bedeutend zugänglicher: die Wortgruppe Grenzverletzung, Übergriff und Missbrauch.
Bringt sie nicht treffend auf den Punkt, was Sünde eigentlich meint? Die Ursünde Adams und Evas im Paradies war ein Übergriff. Gott hatte dem Menschen grosszügig gestattet, von allen Bäumen des Gartens zu essen. Nur den Baum der Erkenntnis sollte er in Ruhe lassen, ihn hatte Gott sich selbst vorbehalten (Gen 2, 17). Doch der Mensch liess sich durch die Schlange versuchen, konnte nicht widerstehen – und ist gefallen.
In schneller Folge schliessen sich sogleich zwei weitere Übergriffe an. Da nimmt Kain aus Eifersucht seinem Bruder Abel das Leben (Gen 4). Zwei Kapitel später (Gen 6) werden Menschentöchter von Gottessöhnen als Frauen genommen; damit werden die Grenzen der beiden Gattungen der Menschen und der himmlischen Wesen verletzt.
Den drei Geschichten ist eigen, dass der Ort Gottes, aber auch der ureigene Ort eines jeden Menschen nicht ernst genommen wird. Es geht um ein Hineinpfuschen in anderes Leben, um ein Hineinpfuschen in die Ordnung Gottes, die jedem Geschöpf seine Ausrichtung auf die ewige Glückseligkeit ein gestiftet hat.
Hat Gott, der Schöpfer, sich denn verrechnet, den Menschen vielleicht überfordert mit der Gabe der freien Entscheidung? Er tritt nun auf als zorniger Rächer, indem er alle Lebewesen in der Sintflut umkommen lässt – mit Ausnahme je eines Paares einer jeden Gattung, die Noah zuvor in seiner Arche geborgen hatte. Nach Abklingen der Flut bringt Noah Gott ein Brandopfer dar, und Gott richtet einen Regenbogen auf als Zeichen seines Bundes mit allen Lebewesen. Nie mehr soll eine solch schreckliche Flut alles Lebendige verschlingen. Gott sucht nun mit allen Mitteln, seine gute Ordnung wiederherzustellen: mit der Hilfe von Richtern, Priestern, Königen und Propheten, durch Kriege, Plagen, Wüstenwanderungen und Wunder. Umsonst – wird Gott gleichsam scheitern? Da scheint ihm eine zündende Idee einzufallen: «Gleiches heilt man doch mit Gleichem!» Auch er wird nun Grenzen überschreiten, aber auf seine Weise: in der Menschwerdung überschreitet er die Grenze zwischen der Welt Gottes und der Welt des Menschen, im Kreuz die Grenze zwischen Leben und Tod und in der Auferstehung die Grenze zwischen der alten und der neuen Schöpfung mit alldem, was kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat.
Grenzüberschreitungen sind ambivalent. Sie können durcheinanderbringen, hineinpfuschen, ablenken, schwächen, zerstören – oder aber retten. Es kommt darauf an, wer dahintersteht: das Böse oder das Gute, Gott. Er hätte gewiss dem Menschen sagen können: «Du hast Grenzen nicht respektiert und steckst nun im Schlamassel. Ich hingegen respektiere deine Grenzen und deine Freiheit, also kann ich leider für dich nichts mehr tun. Viel Glück und auf Nimmerwiedersehen!» Doch das wäre nicht der Gott des Regenbogens gewesen, der so handelte. Auch uns, übrigens, darf die grundsätzliche Respektierung von Grenzen anderer nicht entsolidarisieren oder andern Menschen gegenüber gleichgültig werden lassen.
Wer neigt denn vor allem dazu, Grenzen zu überschreiten? Vielleicht sind es besonders jene, denen nie wirklich zugestanden worden ist, selbst Grenzen zu setzen. Wie wollen solche Menschen den Sinn für Grenzen entwickeln können? Wie wollen sie von innen her verstehen, dass das Leben und die anderen Menschen nicht Waren im Gestell eines Supermarkts sind, wenn sie selbst achtlos gebraucht und missbraucht worden sind?
Ein letzter Gedanke. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in der Bibel wird oft als ein Verhältnis der Liebe beschrieben. Liebe hat immer auch etwas Massloses, Absolutes an sich, etwas Grenzenloses. Das ist nicht ungefährlich. Solche Liebe kann erdrücken und zum Gefängnis werden, überfordern und wehrlos machen. Der portugiesische Kardinal José Tolentino Mendonça, nimmt dieses Problem in seinem Buch Petit traité de l’amitié (ISBN: 978-27067-1122-0) ins Visier: Er sucht in der Bibel nach Situationen, in denen nicht nur Liebe, sondern auch Freundschaft als Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch auftaucht. In der Freundschaft werden Grenzen respektiert, sind partielle Ja und Nein möglich, ohne dass die Freundschaft als solche daran zerbricht.
Wir stehen in der Fastenzeit und sind auf dem Weg vom Berg nach Jerusalem. Nur wenn wir uns mutig und klärend mit den Schatten auseinandersetzen, die uns begegnen, werden wir zum Ort von Kreuz und Auferstehung finden, der mit Jesus Christus, auf den wir getauft sind, auch unser Ort ist – zum Eintritt in eine neue, ungeahnte Schöpfung. Amen.