P. Patrick Weisser zum Fünften Fastensonntag 2023

26.03.2023

Der jüdische Bibelforscher Pinchas Lapide sagt einmal: „Entweder, man nimmt die Bibel wörtlich, oder man nimmt sie ernst. Beides zusammen geht nicht.“ (Frankl/Lapide, 67.)

Ein gutes Beispiel dafür, dass Lapide Recht hat, ist das heutige Evangelium.

Wer die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus als Geschichte verstehen will, die sich tatsächlich so zugetragen hat, wie es das Evangelium beschreibt, der steht bald vor grossen Schwierigkeiten.

Die wichtigste davon ist folgende: Wenn Jesus tatsächlich einen Leichnam, der schon am Verwesen ist, wieder auferweckt hätte, dann wäre das ein derart unglaubliches Wunder, wie es in den anderen Evangelien nicht vorkommt.

Wäre die Geschichte von dieser unglaublichen Auferweckung tatsächlich wahr, dann stellt sich die Frage, weshalb die anderen Evangelien davon nichts wissen. Sie sind ja älter als das Johannesevangelium und damit näher am historischen Geschehen.

Das Lukasevangelium kennt zwar Marta und Maria, weiss aber nicht einmal, dass die beiden noch einen Bruder haben sollen (Lk 10,38-42). Das ist doch eigenartig.

Ein zweiter Grund spricht dagegen, die Erzählung von Lazarus einfach wörtlich zu nehmen: Lazarus selbst sagt kein Wort. Er taucht einzig an dieser Stelle auf, und nachdem er auferweckt worden ist, geht er einfach weg. Man hört nie wieder etwas von ihm. Lazarus ist nicht wirklich greifbar.

Wenn wir das Johannesevangelium also ernst nehmen wollen, können wir die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus nicht einfach wörtlich verstehen.

Damit stehen wir vor der Frage, weshalb Johannes die Geschichte von Lazarus überhaupt erzählt, wenn sie in Wirklichkeit doch gar nicht so geschehen ist.

Die Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir das Johannesevangelium etwas genauer anschauen. Dann fallen uns nämlich zwei Beobachtungen auf, eine bemerkenswerte und eine wichtige.

Die bemerkenswerte Beobachtung: Es fällt auf, wie sich die Wunder Jesu, die Johannes berichtet, – Johannes nennt sie „Zeichen“ – ständig steigern. Sie werden immer unglaublicher.

Auf das Wunder von Kana folgt eine Krankenheilung, die Brotvermehrung, Jesu Gang auf dem See und eine weitere Krankenheilung. In Kapitel 5 heilt Jesus dann einen Blindgeborenen, was viel unglaublicher ist als die Heilung eines Blinden, der einmal sehen konnte. In Kapitel 11 schliesslich folgt die Auferweckung nicht nur eines Toten, sondern eines Leichnams, dessen Verwesung bereits begonnen hat. Wir sehen: Die Wunder Jesu werden immer unglaublicher.

Nun die wichtige Beobachtung; sie ist der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte von Lazarus. Im Laufe des Johannesevangeliums nimmt auch die Spannung beständig zu. Der Gegensatz zwischen Jesus und den Juden wird immer schärfer – bis nach der Auferweckung des Lazarus am Ende von Kapitel 11 der Hohe Rat den Beschluss fasst, Jesus umzubringen. (11,53.) Was folgt, ist die Passionsgeschichte: Jesu Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung.

Die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus ist das letzte Zeichen, das Jesus setzt vor seinem eigenen Leiden und Sterben, vor seiner eigenen Auferweckung.

Johannes sagt uns mit seiner Lazarus-Geschichte also: Jesus Christus ist Gottes Sohn, der Herr über Leben und Tod. Und genau dieser Herr über Leben und Tod, Gott selbst, gibt sein Leben für uns Menschen hin.

„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ (11,25f.) So sagt es Jesus selbst, kurz bevor er Lazarus aus dem Grab ruft. Es ist der Kernsatz des heutigen Evangeliums.

Weshalb also erzählt Johannes eine Geschichte, sie so, wörtlich, nie geschehen ist? Jetzt haben wir die Antwort: Johannes will zeigen, wer Jesus Christus wirklich ist: Der am Kreuz Hingerichtete ist der Herr über Leben und Tod, der Sohn Gottes, der es unternommen hat, uns Menschen zu erlösen.

Eine dritte und letzte Frage drängt sich auf: Was sollen wir heute mit der Geschichte von Lazarus anfangen? Zwei Gedanken legen sich nahe.

Im Johannesevangelium geht ein ganz souveräner Sohn Gottes freiwillig und aus eigenem Entschluss ans Kreuz, um alle Menschen zu erlösen. Jesus Christus gibt sich für uns Menschen hin, damit wir leben.

Damit ist es ein für allemal aus mit unnötigen Schuldgefühlen, die uns gerade in der Fastenzeit sehr zu schaffen machen können. Nicht wir sind schuld an Jesu Tod, sondern er geht ans Kreuz, damit wir leben. Das ist eine ganz andere Sichtweise. Gewissen Liedern und Gebeten der Fastenzeit fehlt diese Sichtweise leider oft ganz.

Johannes nimmt uns mit seinem Evangelium aber auch eine zweite mögliche Fehlhaltung: die Versuchung zur Selbsterlösung. Unser Heil kommt durch die souveräne Selbsthingabe Jesu, des Herrn über Leben und Tod. Er hat uns erlöst und nicht wir selbst.

Damit sind wir eingeladen, unsere oft gut versteckten Versuche, uns selbst zu erlösen, endlich aufzugeben. Wir können nicht dadurch vor Gott bestehen, dass wir versuchen, einflussreicher, angesehener, intelligenter, schöner, mächtiger, erfolgreicher oder tugendhafter zu sein als andere.

Jesu Tod und Auferstehung geben uns die Freiheit, unsere Gaben nicht zur eigenen Selbstbestätigung zu missbrauchen, sondern sie zum Wohl der anderen einzusetzen.

Wir brauchen uns nicht selbst zu bestätigen: Wir sind schon bestätigt durch einen Grösseren – einen Grösseren, der seine Grösse gerade nicht zur Selbstbestätigung, sondern zum Heil aller Menschen eingesetzt hat.

Amen.