
P. Cyrill am 7. Sonntag im Jahreskreis A
Lesung: Lev 19, 1-4.9-18
Evangelium: Mt 5,38-48
Matthäus liebt schockierenden Übertreibungen. Diese Lust lebt Matthäus im heutigen Evangelienabschnitt voll aus. Wollte man alles wörtlich nehmen, könnte es einem angst und bang um die physische und psychische Gesundheit werden.
Jesus selbst ist nach Matthäus ein äusserst wortgewandter Provokateur. Heute provoziert Jesus seine Hörerschaft auf mindestens drei verschiedenen Ebenen. Er schockiert zum einen die damaligen Juden, weil er sich selbst gegen die Gebote Gottes positioniert: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist… – Ich aber sage euch!“ Durch seine Korrektur stellt Jesus sich höher als die Tora, als Mose. Er stellt sich auf die Ebene des gesetzgebenden Gottes. Aber nicht nur das: Der Jesus zitiert die Tora überspitzt respektive falsch. Nirgends im Alten Testament steht, dass man seinen Feind hassen soll. Es ist eine bewusste Unterstellung des Matthäus, dass die Tora und die Juden lehren, man solle nur die eigenen Glaubensbrüder lieben, die anderen aber könne man vernachlässigen, ja gar hassen. Diese Unterstellung musste die damaligen Juden zu einer Richtigstellung aufstacheln. Auch wenn wir im Evangelium keine solche Reaktion hören, können wir sie uns denken.
Das Evangelium ist aber nicht für die Pharisäer, die traditionelle Gegnerschaft Jesu, geschrieben. Es richtet sich an die Jünger:innen des ausgehenden 1. Jahrhunderts. Wir können erahnen, dass diese die Provokation auf sie gemünzt verstanden haben. Sie sollten eben nicht beim Buchstaben des Gesetzes stehen bleiben, sondern auf den Grund gehen: lieben auch jene, die sie verfolgen und schmähen. Das war ein provozierender Aufruf in eine konkrete Situation hinein. Das betraf Personen im Umfeld, vielleicht in der eigenen Familie.
Damit verlagert sich die Provokation auf eine zweite Ebene. Jesus provoziert die Jünger:innen des 1. Jahrhunderts. Es geht nicht um eine blosse Erfüllung der Gebote Gottes. Der matthäische Jesus provoziert nun die Hörer- und Leserschaft, die Haltung und Idee der Gebote Gottes radikal zu eigen zu machen, eben zu lieben bis zum Äussersten, wie er es selbst bis ans Kreuz getan hat. In seinen Übertreibungen geht Matthäus so weit, dass ein Jünger Jesu letzten Endes einäugig, zahnlos, geschlagen, ohne Kleider, mit geschundenen Füssen, leer dastünde, weil er alles mit sich machen liesse. Ich bezweifle, dass Matthäus mit seinen Übertreibungen, den Jünger Jesu als hilfloses, unterwürfiges, harmloses Geschöpf, das sich wehrlos ausnützen lässt, zum Idealbild erklärt. Mit diesen provozierenden Übertreibungen geht es ihm um mehr als um eine Verschärfung und Radikalisierung der Tora.
Wie in der ersten Provokation gegenüber den Juden geht es auch hier nicht darum, die Tora, das Gesetz Gottes, ausser Kraft zu setzen, sondern es in seiner Tiefe zu erfüllen (Mt 5,17). Es geht Jesus nicht um einzelne Weisungen, die wörtlich umgesetzt werden müssen. Es geht nicht um die Provokation. Es geht um das, was sie pro-vozieren, eben hervor-rufen will: die radikale Haltung hinter allem, die Liebe, die Hingabe bis zum Äussersten. Eine solche Haltung ist nicht zahnlos. Sie hat Biss. Sie hat eine Richtung. Im Evangelium heisst es, „dass ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet“ (Mt 5,45).
Christen sind nicht einäugig und zahnlos. Sie haben eine Richtung – durch Jesus auf den Vater hin! Dies Ausrichtung gilt es kompromisslos einzuhalten, wie die Nadel eines Kompasses.
Jesus sagt uns letztlich, dass es um mehr geht als um das Einhalten von einzelnen Geboten. Der Radikalismus zielt auf eine alles dominierende Grundhaltung. Später wird er diese im Doppelgebot der Liebe zusammenfassen: An der Liebe gegenüber Gott und den Nächsten hängen das ganze Gesetz und die Propheten (vgl. Mt 22,40). Diese Konzentrierung auf die Liebe macht eigentlich die einzelnen Gebote aber auch ihre Radikalisierung überflüssig. Sie konfrontiert die Hörer mit dem eigentlichen Willen Gottes, der liebenden Hingabe, wie er es selbst vorgelebt hat. Es geht nicht um Verschärfung, um die Radikalisierung der Tora. Es geht um die grundlegende Liebe in allem. Das ist nicht weniger radikal, befreit uns aber von einer skrupelhaften Befolgung einzelner Vorschriften. Nach dem Wort radix – Wurzel – geht die Haltung in die Tiefe und bleibt nicht an der Oberfläche bei äusseren Verhaltensweisen.
Damit provoziert der matthäische Jesus auf einer dritten Ebene. Nicht die Juden und nicht die Jünger:innen des 1. Jahrhunderts, sondern die Hörer des 21. Jahrhunderts, die sich als christianisiert bezeichnen: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48)! Auch wenn eine solche Aussage aufrüttelt, nicht auf dem Erreichten auszuruhen, stellt sie wieder eine masslose Übertreibung dar und birgt eine grosse Gefahr in sich. Sie setzt einen grossen religiös-moralischen Druck auf, der krank machen kann, weil es eine völlige Überforderung ist, vollkommen wie der himmlische Vater sein zu wollen. Es ist psychisch ungesund, diesem Ideal irgendwie nacheifern zu wollen, weil wir darin hundertprozentig garantiert scheitern werden.
Das griechische Wort τέλειός – vollkommen – wird in jüdischer Tradition vom hebräischen Begriff tamim [תָמִֽים׃] abgeleitet, was die vollkommene Ausrichtung auf Gott bedeutet. Von Noah heisst es, dass er „ein gerechter, untadeliger Mann – eben tamim – war; er ging mit Gott“ (Gen 6,9). Und zu Abram sprach Gott: „Geh vor mir und sei untadelig – tamim“ (Gen 17,1)! tamim [תָמִֽים׃] bedeutet vollkommene Ausrichtung auf Gott, das schliesst im Hebräischen aber nicht notwendigerweise volle moralische Vollkommenheit ein.
Gerade weil wir nicht vollkommen sein können, sollen wir uns nicht besser fühlen als andere – als Arme, Blinde und Schuldner. Wir sollen das Richten und Bestrafen Gott, dem allein Heiligen, überlassen. Gott allein ist heilig, wie die Lesung aus Levitikus (Lev 19) deutlich hervorhebt.
„Seid vollkommen!“ meint also nicht eine moralische Vollkommenheit, sondern ein vollkommenes Ausgerichtetsein auf Gott. Gott nicht als Sache neben anderen Dingen zu behandeln, nicht selbstherrlich und unabhängig sein zu wollen, weil nur Er der HERR ist.
Die Provokationen Jesu führen uns dahin, dass wir nicht einzelne Gebote einhalten, sondern in der Grundhaltung der Liebe verwurzelt sind, unser Leben ganz auf Gott ausrichten, damit wir Kinder des Vaters im Himmel sind und er der HERR unseres Lebens ist und bleibt!