P. Patrick Weisser zum Dritten Adventssonntag „Gaudete“

11.12.2022

„Möge Gott (falls es einen gibt) meiner Seele gnädig sein (falls ich eine habe).“

Dieses „Gebet“ (falls es eines ist) stammt vom französischen Aufklärer Voltaire, der 1778 gestorben ist. Voltaire ist bekannt für seinen Spott und seine spitze Feder.

„Möge Gott (falls es einen gibt) meiner Seele gnädig sein (falls ich eine habe).“

Dieses „Gebet“ ist wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeint. Zu sehr scheint der Zweifel an Gottes Dasein durch sowie daran, ob unser menschliches Dasein einen Sinn hat.

Und trotzdem – leuchtet in diesem „Gebet“ nicht auch ein wenig Hoffnung auf? Ist hinter allem Spott und aller Kritik am Glauben nicht doch ein wenig Sehnsucht spürbar, dass es Gott doch geben und dass er uns gut gesinnt sein möge?

Wie Voltaire sein „Gebet“ gemeint hat, wissen wir nicht mit Sicherheit. Sicher aber ist: Jesus hätte an diesem „Gebet“ seine Freude gehabt – und er wäre darauf eingegangen.

Das zeigt sich zum Beispiel an der Geschichte vom Zöllner Zachäus, die wir alle kennen. Zachäus weiss, dass er ein Sünder ist. Trotzdem ist in ihm die Hoffnung auf Heil nicht ganz gestorben, und er spürt die Sehnsucht, Jesus einmal zu sehen, wenn auch nur von ferne und aus einem sicheren Versteck heraus. (Lk 19,1-10.)

Jesus nimmt diese verhaltene Hoffnung und Sehnsucht sofort auf. Er geht auf Zachäus zu und besucht ihn in seinem Haus, um ihm, wie er ausdrücklich sagt, sein Heil erfahren zu lassen: „Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ (Lk 19,10.)

Zweifel, Unsicherheit, Schuld, aber auch Sehnsucht und Hoffnung sind für Jesus keine Hindernisse, sondern vielmehr bevorzugte Wege zu den Herzen der Menschen. Das zeigt uns auch das heutige Evangelium.

Johannes schickt seine Jünger zu Jesus mit der überraschend direkten Frage: „Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ (Mt 11,3.)

Offensichtlich hat Johannes von seinem ehemaligen Jünger Jesus gehört, wie dieser in Wort und Tat Aussergewöhnliches wirkt. Es bleiben aber Zweifel und Ungewissheit. Ist Jesus wirklich der, der kommen soll? Ist das, was Jesus tut und sagt, wirklich Anzeichen des göttlichen Gerichtes und der Erlösung, für die Johannes mit seinem Leben einsteht?

In der Frage des Johannes mischen sich, ganz ähnlich wie bei Zachäus und bei Voltaire, Hoffnung und Zweifel, Sehnsucht und Angst vor Enttäuschung.

Jesus nimmt die Anfrage des Johannes ernst. Er gibt ihm eine klare Antwort, wie sie in ähnlicher Weise Zachäus und – hoffentlich – auch Voltaire erhalten haben:

„Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“ (Mt 11,5f.)

Jesus weiss um das menschliche Herz. Er kennt unsere Sehnsucht nach Erlösung, aber auch unseren Widerstand dagegen. Er weiss um unsere Not und Hoffnung, aber auch um unsere Zweifel und unsere Angst. All das zugleich macht uns Menschen aus, und Jesus, der Mensch gewordene Gottessohn, kennt es aus eigener Erfahrung.

Es gibt nur zwei Sorten von Leuten, denen Jesus nicht entgegenkommen und auf deren Fragen er nicht eingehen kann, weil sie nämlich gar nicht unterwegs sind und auch gar keine Fragen und Zweifel haben.

Es sind Menschen, die ihre Not und Zweifel, ihre Hoffnung und Sehnsucht nicht wahrhaben wollen. Diese Menschen leiden nicht an ihrer Situation; diesen Aspekt des Lebens verdrängen sie. Das gibt ihnen den Vorteil, Leid und Schuld nicht mehr bei sich, sondern nur noch bei den anderen zu sehen. Und es gibt ihnen den Vorteil, sich ihrer Sache scheinbar ganz, ganz sicher zu sein.

Diese Leute teilen sich in zwei Gruppen, die auf den ersten Blick sehr verschieden aussehen, obwohl sie im Grunde genau gleich sind: Es sind die religiös Gleichgültigen und die religiös sehr Konservativen.

Die religiös Gleichgültigen verwehren sich jede Frage, die über rein materielle Dinge hinausgeht. Sie beschränken sich auf die Sorgen des Alltags und versuchen, das Leben möglichst zu geniessen. Solche Menschen gibt es heute in steigender Zahl.

Die religiös sehr Konservativen verwehren sich ebenfalls jede Frage, die über rein materielle Dinge hinausgeht, aber aus einem anderen Grund: weil sie die Antworten zu diesen Fragen schon zu haben meinen.

Das ist das Eine, wozu uns das heutige Evangelium einlädt: Geben wir unseren Zweifeln und Fragen Raum, und bringen wir sie vor Christus! Er kennt unser zugleich suchendes und zweifelndes Herz, unsere Sehnsucht und unsere Angst. Sie sind das Tor, durch welches er zu uns kommen kann.

Es gibt noch ein Zweites, zu welchem uns das heutige Evangelium einlädt: Wenn wir zu Christus gehen mit unseren Hoffnungen und Fragen, mit unserem Zweifel und unserer Sehnsucht, dann dürfen wir auch seine Antwort hören: „Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ (Mt 11,5.)

Jesus von Nazaret ist überzeugt, dass im Hier und Jetzt – jetzt, in diesem Augenblick – Gottes Reich angebrochen ist. Jesu Wort und Tat, sein Leben und Sterben, ja, auch seine Auferstehung sind ohne diesen Glauben undenkbar. Das Heil, das er wirkt, ist nicht bloss Selbstzweck. Jesus sieht es als klares Zeichen und Beweis für Gottes Gegenwart.

Das sagt er auch uns Menschen von heute zu. Wir dürfen glauben, dass Gott auch in unseren Tagen gegenwärtig ist – jetzt, in diesem Augenblick. In allem, was an Heil und Heilung hier und jetzt wahrnehmbar ist, geschieht auch heute Erlösung.

Wenn uns also Hoffnung und Angst, Zweifel und Sehnsucht umtreiben, dann halten wir doch Ausschau! Denn wenn wir nach Zeichen von Gottes Gegenwart Ausschau halten, in unserem eigenen Leben und in der Welt, dann werden wir sie früher oder später auch sehen.

Amen.