
P. Alois Kurmann zum Zweiten Adventssonntag
Vom bekannten reformierten Pfarrer und Dichter Kurt Marti stammt der Satz: „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter (ich sage mit Bedacht: Dichter!), damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist.“
Was unberechenbar ist, macht Angst und lähmt. Corona, Krieg in der Ukraine, Gefahr, dass der Strom mangelt, Teuerung: alles das ist mit Unberechenbarkeit belastet und macht Angst. Der Dichter Kurt Marti aber spricht von „heiliger Unberechenbarkeit“, mit der Gott durch einige Dichter zu uns redet. Er sagt aber, dass Priester und Theologen diese heilige Unberechenbarkeit verloren haben und vielleicht nur einige Dichter sie noch haben. Da ich zur Zunft der Priester und Theologen gehöre, bin ich froh, dass wir heute einen Dichter hören, der diese heilige Unberechenbarkeit ohne Zweifel hat, nämlich der Prophet Jesaja.
Von ihm stammt die Lesung, die wir gehört haben. Jesaja lebte und wirkte von ca. 740-700 vor Christus in Israel und Judäa, also etwa zur gleichen Zeit wo in Griechenland die früheste europäische Literatur entstand, die Ilias und die Odyssee. Jesaja spricht in einer Zeit, wo Israel von fremden Mächten bedroht ist, die Könige schwach waren und wenige Reiche die anderen ausbeuteten. In diese Situation hinein entwirft Jesaja sein Bild von „heiliger Unberechenbarkeit“: Ein junger Trieb wird aus den alten Wurzeln hervorgehen, das heisst ein König, der ganz anders ist als die gegenwärtigen; er wird von Gottes Geist erfüllt sein, wird Gerechtigkeit schaffen, die Gewalttätigen hindern, sich für die Armen stark machen. Und hier nun das Bild von der „heiligen Unberechenbarkeit“: Wolf und Lamm, Panther und Böcklein, Kalb und Löwe weiden friedlich miteinander, Säuglinge spielen mit Nattern und Schlangen, es gibt keine Verbrechen mehr, das ganze Land wird Gott kennen und es wird herrliche Ruhe herrschen.
Ist das billige Verströstung in auswegloser Situation, Wunschdenken, Utopie? Die Evangelisten des Neuen Testamentes haben es anders verstanden; sie haben diese Bilder auf Jesus bezogen, sie haben in diesem König, der Frieden bringt, Jesus erkannt. Denken wir nur an die Weihnachtsgeschichte, wie sie Lukas erzählt: Die Hirten von Bethlehem gehen zur Krippe Jesu und die Engel singen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen, an denen Gott seine Freude hat.“
Ich versuche, uns die wunderbaren Bilder des Propheten Jesaja, die voll „heiliger Unberechenbarkeit“ sind, mit einem anderen Bild nahezubringen, mit einem Text der Dichterin Hilde Domin. Sie sagt. „Worte sind reife Granatäpfel, sie fallen zur Erde und öffnen sich. Es wird alles Innere nach aussen gekehrt, die Frucht stellt ihr Geheimnis bloss und zeigt ihren Samen, ein neues Geheimnis“. Schauen wir die Worte des Propheten Jesaja wir kostbare Äpfel an, die uns geschenkt sind, die sich öffnen, ihr Inneres, ihren Samen zeigen, der ein neues Geheimnis ist. Sagen wir in einfacher Sprache, wie wir die wunderbaren Worte des Propheten Jesaja verstehen können. Die Worte Jesajas haben sich nicht so erfüllt, wie er es gehofft hat: Israel hat keinen idealen König bekommen, es ist kein wunderbarer Friede eingekehrt. Auch der wunderbare Friede, wie ihn der Evangelist Lukas in der Weihnachtgeschichte besingt, ist in unserer Welt nicht Wirklichkeit. Aber die Worte des Propheten sind Samen, die ein neues Geheimnis sind, die Hoffnung wachsen lassen, die Menschen zu allen Zeiten Kraft und Zuversicht geben können.
Unberechenbarkeit zeigt sich auch im Abschnitt des Evangeliums, den wir gehört haben, allerdings in einer ganz anderen Richtung. Matthäus lässt Johannes den Täufer als Bussprediger auftreten, der die religiösen Führer als Schlangenbrut bezeichnet, ihnen Heuchelei und falsches Gottvertrauen vorwirft. Es ist sicher gut, wenn wir auch diese unberechenbaren Worte hören und uns von ihnen treffen lassen.
Für diese Adventszeit möchte ich Ihnen dennoch empfehlen, die heilige Unberechenbarkeit der Worte des Propheten Jesaja wirken zu lassen. Lassen wir sie in uns wirken, diese Bilder vom wunderbaren Frieden, vergessen wir sie nicht, nehmen wir sie als grosse Verheissung. Mit Jesus ist uns die starke Kraft gegeben, dass der Friede wächst, dass mitten in Kriegen und Terror Menschen aus der Kraft dieses Friedens leben und wirken. Lassen wir in uns diese Sehnsucht nach dem Frieden wachsen, stark werden und einander in dieser Kraft begegnen. Diese Worte sind „heilige Unberechenbarkeit“, sie wirken tiefer und stärker als wir es in unserem Denken verstehen und berechnen können.