
P. Theo Flury am 33. Sonntag im Jahreskreis
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein.
Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gestellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
von dem goldnen Überfluss der Welt.
Liebe Brüder und Schwestern
Ein nüchterner Geist möchte das Gedicht «Abendlied» von Gottfried Keller etwa so kurz zusammenfassen: «Ich bin schon älter, nun sollte ich doch reisen und mir die Welt ansehen, bevor ich sterbe und das nicht mehr tun kann.» Warum Gedichte? Warum also Poesie mit diesen scheinbar unsinnigen Bildern: sind Augen denn Fensterlein? Können Augen trinken, was die Wimper hält? Wo zeigt sich die Welt golden überfliessend?
Nüchterne Feststellungen wollen begreifen, nehmen etwas sprachlich in den Griff, während sich Poesie auf etwas bezieht, das nicht in fest umrissene Definitionen gepresst werden kann. So enthält das Gedicht von Keller eben doch mehr als nur eine sachliche Aufforderung zum Weltenbummeln. Der Sprachrhythmus, die Farbtöne der Vokale, die Eigenschaftswörter, die Bilder lassen uns bereits vorausnehmend etwas von dieser Reise erleben, die wir in Wirklichkeit ja noch gar nicht angetreten haben.
Das soeben verkündigte Evangelium bedient sich ebenfalls der poetischen Sprache, weniger auffällig zwar als das Gedicht von Gottfried Keller, und mit ganz anderen Untertönen. Da wird der kostbar ausgestattete Tempel in Jerusalem, Wahrzeichen und Herzstück des Judentums, niedergerissen, Lehrende vertreten fremde Botschaften und stiften Unruhe, Kriege, Naturkatastrophen treten auf, Christen werden in Gefängnisse geworfen, sogar ihre eigenen Familien und Freunde verraten sie. Alles geht drunter und drüber. Bedrohliches Chaos! Bei diesen sogenannten apokalyptischen Aussagen handelt es sich um eine bestimmte Sprechweise, die dort auftritt, wo sich die Bibel mit dem Ende der Welt befasst. Wir finden sie bereits im Alten Testament, beispielsweise in der heutigen Lesung aus dem Buch Maleachi oder im Buch Daniel, dann, besonders ausgeprägt, im neutestamentlichen Buch der Offenbarung des Johannes.
Tatsache ist, dass wir über den konkreten Ablauf des Endes nichts wissen. So lesen wir im Matthäusevangelium: «Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.» (Mt 24,36) Aber bestimmte Bilder der Furcht und des Schreckens verbinden sich mit unserer Vorstellung davon und werden zu einem Leitmotiv, das in der Bibel, wie bereits erwähnt, dort auftritt, wo das Ende thematisiert wird. Diese Bilder lassen uns, vorausnehmend, bereits etwas davon erfahren: das Zerbrechen des Gewohnten, das Verlorengehen der Sicherheiten, das Entgleiten jeglicher Kontrolle.
Doch ist diese Sprechweise nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern hat einen Rückhalt in unserer Erfahrungswelt, gerade auch bei Lukas. Zur Zeit der Abfassung seines Evangeliums (nach dem Jahr 70) sind der Tempel in Jerusalem und die Stadt von den römischen Soldaten schon zerstört worden und die Lukasgemeinde muss sich in teilweise bedrängenden Situationen befunden haben. Das Lukasevangelium platziert die Ankündigung der Zerstörung des Tempels als Prophetie Jesu von zur Zeit der Abfassung des Textes schon Geschehenem. So merkwürdig das erscheint: Den Adressaten haben die Gerichtsankündigungen wohl gutgetan; ihnen Druck genommen, Versicherung und Zuversicht gegeben, dass Gott das Furchtbare einfangen und zum Guten wenden werde.
Wodurch geschieht jedoch diese Wende? Folgen wir wiederum dem Leitmotiv der endzeitlichen Bilder. Die Spurensuche führt uns zur Kreuzigungsszene im Matthäusevangelium, die geradezu angefüllt ist mit apokalyptischen Motiven:
„Jesus aber schrie noch einmal mit lauter Stimme. Dann hauchte er den Geist aus. Und siehe, der Vorhang riss im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich. 52 Die Gräber öffneten sich und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt. Nach der Auferstehung Jesu verließen sie ihre Gräber, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen“ (Mt 27,50-53).
Wie weit es sich hier lediglich um Bilder handelt oder auch um reale Vorkommnisse, spielt keine Rolle. Die Aussage ist klar: Mit dem Opfertod Jesu am Kreuz und dem Vergiessen seines Blutes zur Vergebung der Sünden, wie auch heute der Priester während dem Hochgebet der Messe über den Kelch sprechen wird, ist die Endzeit angebrochen, das Gericht über die Welt und die Mächte des Bösen gehalten, der Tempel des alten Bundes in den Tempel des neuen Bundes hereingeholt, der Himmel geöffnet.
Die Geschichte, im Licht der christlichen Deutung, strebt seither nicht mehr unaufhaltsam nach vorn, einer noch fernen Erfüllung, einem noch fernen unbekannten und erhofften Ziel entgegen, sondern kreist um ihren Sinn und ihre Mitte, um Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, so wie die Planeten in ihren mannigfaltigen Bahnen ihren Stern umkreisen, der sie anzieht.
Was allerdings noch aussteht, ist der endgültige Übergang der Schöpfung in den neuen Himmel und die neue Erde, von der das Buch der Offenbarung des Johannes berichtet, wo Gott alles in allem sein wird (vgl. Offb 21), und unser unausweichliches persönliches Sterben.
Für alle apokalyptischen Schrecken der Veränderung, des Loslassens, der Übergänge und der Abschlüsse, des Zugehens auf den Tod aber gilt: In und mit Jesus Christus dürfen wir Ruhe und Trost finden.
Wir haben mit einem Gedicht begonnen und wollen mit einem zweiten schliessen, das die Stimmung dieser Zuversicht angesichts der Vergänglichkeit und des sicheren Endes unseres irdischen Lebens wiedergibt. Der Dichter der «Abendwolke», Conrad Ferdinand Meier ist, wie Konrad Gottfried Keller, an den Gestaden des Zürichsees aufgewachsen. Wie der heilige Johannes, der seine Offenbarung auf der Insel Patmos geschrieben hatte, werden die beiden vielleicht durch den auf die Oberfläche des vielfältig lichtspiegelnden Wassers gerichteten und nach Bildern suchenden Blick inspiriert worden sein.
Abendwolke
So stille ruht im Hafen
Das tiefe Wasser dort,
Die Ruder sind entschlafen,
Die Schifflein sind im Port.
Nur oben in dem Äther
Der lauen Maiennacht,
Dort segelt noch ein später
Friedfertger Ferge sacht.
Die Barke still und dunkel
Fährt hin im Dämmerschein
Und leisem Sterngefunkel
Am Himmel und hinein.
Conrad Ferdinand Meier