
P. Cyrill Bürgi zum 30. Sonntag im Jahreskreis
Lesung: 2 Tim 4,6-8. 16-18
Evangelium: Lk 18,9-14
Liebe Schwestern und Brüder,
„S’Läbe isch en Kampf!“ Diese Erfahrung machen wir in den vielfältigsten Bereichen unseres Lebens, sei es in der Ausbildung, sei es am Arbeitsplatz, sei es in den Beziehungen, sei es in der Familie, sei es im politischen Ringen um Waffenstillstand und Frieden. Im Ringen um unsere Werte, Ideale und im Fragen nach dem Sinn des Lebens spüren wir die Notwendigkeit von ständiger Auseinandersetzung mit der Zeit, mit Meinungen und neuen Entwicklungen. Wer sich nicht ständig um Weiterbildung bemüht, bleibt nicht einfach auf dem erlangten Bildungsniveau stehen. Seine Kompetenzen vermindern sich. Das eigene Niveau zu halten und seinen eigenen Idealen treu zu bleiben, bedeutet ständige Arbeit, viel Disziplin und oft auch Selbstüberwindung.
Paulus spricht am Ende seines Lebens von diesem Kämpfen in der Verkündigung der Auferstehung Jesus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt“ (2 Tim 4,7)! Christus hat ihm kein einfaches Leben versprochen. Schon am Anfang seiner Tätigkeit hat er ihm gezeigt, wie viel er für seinen Namen leiden muss (vgl. Apg 9,16). Auch uns allen, die wir Jesus nachfolgen möchten, verspricht Er kein einfaches Leben, sondern spricht vom Tragen des eigenen Kreuzes. Wir können nicht einmal ausruhen auf dem, was wir meinen, erreicht zu haben. Denn jedes Mal, wenn wir auf etwas Geleistetes stolz zurückblicken, verliert es seinen Wert. Die besonderen Gebets- oder Fastenübungen und die Almosen verdunsten in überheblichem Stolz.
Paradoxerweise offenbart sich der eigene Abgrund immer klarer, je mehr wir uns bemühen den Berg der Heiligkeit zu erklimmen. Wer den guten Kampf kämpft, wird ständig neue und grössere Gegner vor sich wähnen und ihnen erliegen. Im Kampf um das Gute stehen wir weitgehende auf verlorenem Posten. Es bleibt das Eingeständnis des eigenen Unvermögens. Was es aber in diesem guten Kampf zählt, ist die Ausdauer, die Treue und das Wiederaufraffen nach einem Fall. In diesem Sinn können viele Heilige von sich in aller Ehrlichkeit von Sündern sprechen. Es ist gewiss keine Heuchelei, wenn viele Christen sich mit dem Gebet des Zöllners identifizieren können: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Es ist die Annahme der eigenen Ohnmacht in der Gegenwart der Allmacht Gottes.
Das ist das Paradoxe der Nachfolge Christi: Wir werden nicht das Gefühl haben, heiliger zu werden. Im Gegenteil, das Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit wird zunehmen. Das Gefühl des „Ich bin nicht würdig!“ wird grösser.
Dieses Bewusstsein darf uns aber nicht niederdrücken, denn wir stehen im Glauben, dass Jesus unsere Sünden ans Kreuz genagelt und überwunden hat, dass wir an Seiner Auferstehung teilhaben und neue Schöpfung sind. In Ihm haben wir den Sieg schon errungen. Die Liebe Gottes, die sich selbst verschenkt, gibt uns das Vertrauen vor Gott zu treten, wie wir sind. Wir müssen nichts verstecken.
In der heutigen Zeit haben wir Mühe, Schuld einzugestehen. Wir haben Mühe mit dem Konzept der Sünde und mit dem „Herr, erbarme dich!“ Es passt nicht in unser Gottesbild, wenn der Zöllner betet, „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Aber gerade dieser Zöllner muss sich und Gott nichts vormachen. Er weiss, zu wem er hinzutritt. Er vertraut Gott und weiss um seine bedingungslose Liebe für ihn. Gott etwas vorzutäuschen, wäre schlimmer als die Schuldhaftigkeit einzugestehen. Hat jemand das Grundvertrauen in Gott, kann er sich bei Ihm ausruhen und er hat sogar die Freiheit, Fehler zu machen. Erst wenn man weiss, „Ich und der Vater sind eins“ (vgl. Joh 10,30), kann man grosse Risiken eingehen. In Gott finden wir Halt und gewinnen wir unser Selbstvertrauen. Mit diesem Hintergrund gibt es Schlimmeres in der Welt, als Fehler zu machen. Die innere Erfahrung der Einheit mit Gott ist nötig, damit wir ehrlichen Herzens vor Gott mit unserer Schuld treten können. Dieses Vertrauen gewinnen wir, wenn wir aufhören können, vollkommen sein zu müssen, uns rechtfertigen zu müssen oder recht haben zu müssen. Gott weiss, dass wir scheitern und deswegen brachen wir uns vor seiner Barmherzigkeit nicht zu verstecken. Es geht darum, dass wir akzeptieren, dass Gott allein gut ist. (vgl. Mk 10,18). Wenn wir dieses Urvertrauen in Gott gewinnen, können wir das falsche Ich loslassen und brauchen keine (Selbst-)Rechtfertigungen, wie sie etwa der Pharisäer im Gleichnis vorbringt. Wir stehen dann gegenüber Gott quasi von Angesicht zu Angesicht. Wir machen uns verwundbar, wie Er sich in Christus verwundbar gemacht hat.
Wo immer auf der Basis des Vertrauens eine beidseitige Verwundbarkeit möglich wird, da entsteht Leben. Gott steht vor der Welt vollständig verwundbar da und wartet darauf, dass auch wir uns verwundbar zeigen. Bevor es keine beiderseitige Verwundbarkeit gibt, gibt es kein neues Leben, kommt es nicht zum Ausbruch des Heiligen Geistes. Deswegen ist das Bild, wie Gott sich der Welt offenbart, der gekreuzigte Jesus. Wenn wir diesen verwundbaren Gott, diesen verwundbaren Jesus, einmal erfahren haben, dann hat unser Leben keinen Sinn mehr für uns, es sei denn, indem auch wir uns verwundbar zeigen und mit Vertrauen rufen: Hier bin ich, ich bin ein Sünder!“
Man kann sich glücklich schätzen, wenn man einem Menschen auf der Basis des Vertrauens in die Augen schauen kann – in gegenseitiger Verwundbarkeit.
Als geliebte Geschöpfe Gottes, als Christen, als Mönche und Nonnen, sind wir dazu berufen, in Gottes Augen zu schauen – in beidseitiger Verwundbarkeit. Dieses Schauen ins Angesicht Gottes wird brennen. Es wird Tränen der Freude und der Reue hervorrufen. Die Israeliten fürchteten sich, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, weil sie diese Verwundbarkeit fürchteten. Sie glaubten zu sterben.
Je mehr ich fähig werde, Gott von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, umso mehr erkenne ich mich selbst – als armseliges und doch so geliebtes Geschöpf. Ich brauche mir und Gott nichts mehr vorzumachen. Ich darf mich geliebt und angenommen wissen und ich darf meine Tränen der Freude über die bedingungslose Liebe fliessen zu lassen.