
P. Patrick Weisser am 24. Sonntag im Jahreskreis
Evangelium: Lk 15,1-32
In der Bildergalerie des Kunsthauses in Zürich fällt auf, wie viele Bilder kostbare und aufwendige Rahmen haben, die manchmal sogar grösser sind als die Bilder selbst. Andere Bilder haben nur kleine und unauffällige Rahmen; wieder andere Bilder haben gar keinen Rahmen.
Eine Führerin erklärte, die Rahmen seien ohne jede Bedeutung.
Man würde allein auf die Bilder achten.
Von vielen Gleichnissen Jesu dürfte etwas Ähnliches gelten: Der Rahmen spielt kaum eine Bedeutung. Welchen Leuten oder in welcher Situation Jesus ein Gleichnis erzählt, das ist in vielen Fällen nicht so wichtig. Die Gleichnisse sprechen für sich selbst.
Doch es gibt auch Ausnahmen. Es gibt Gleichnisse, deren Botschaft noch einmal eine andere ist, wenn wir auch den Rahmen beachten, das heisst: wenn wir darauf achten, wem genau Jesus diese Geschichten erzählt.
Das ist der Fall bei den drei Gleichnissen im 15. Kapitel des Lukasevangeliums, aus dem wir heute einen Abschnitt gehört haben. Es handelt sich dabei um die Gleichnisse vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und – wie es meist genannt wird – vom verlorenen Sohn.
Diese drei Gleichnisse sprechen zwar auch für sich selbst; sie können unabhängig von ihrem Rahmen gelesen werden. Wenn wir diesen Rahmen aber zusätzlich beachten, dann verändert sich der Sinn der Gleichnisse noch einmal. Schauen wir das genauer an. —
Der Rahmen der drei Gleichnisse in Lk 15 steht ganz am Anfang des Kapitels. Er lautet: „Alle Zöllner und Sünder kamen zu Jesus, um ihn zu hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen. Da erzählte er ihnen ein Gleichnis.“ (Lk 15,1-3.)
Jesus erzählt die drei Gleichnisse in Lk 15 also ausdrücklich als Rechtfertigung gegenüber den Pharisäern und Schriftgelehrten, die an seinem Verhalten Anstoss nehmen.
Bei diesem Konflikt geht es nicht um Kleinigkeiten. Es geht hier um nichts weniger als um zwei grundsätzlich verschiedene und deshalb miteinander unvereinbare Gottesbilder.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten glauben an den Gott des Gesetzes, der richtiges Verhalten belohnt und davon abweichendes Verhalten bestraft. Kurz: Wie Gott zu dir steht, ist die Quittung für dein Verhalten.
Jesus dagegen glaubt, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Gott hat unser Leben geschaffen und will, dass es glückt. Wo es nicht glückt, sei es durch Sünde, Krankheit, Armut oder Elend, da erbarmt sich Gott des Menschen. Kurz: Gott steht zu dir bedingungslos, auch wenn dein Verhalten es scheinbar nicht verdient.
Der Vorwurf der Schriftgelehrten an Jesus lautet: „Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen.“ Jesu Umgang mit Sündern ist für sie nicht nur deswegen anstössig, weil Sünder unrein sind, sondern auch, weil sich jeder ebenso unrein macht, der sich mit ihnen abgibt oder sogar mit ihnen isst.
Jesus sieht das anders: Gott ist nicht für die Gerechten da. Gott wendet sich vielmehr den Verlorenen zu und sucht sie eigens auf. Jesus ist überzeugt: Es geht Gott nicht um Reinheit und Unreinheit, sondern einzig um die Frage, wie verletztes Leben heil werden kann.
Gott sucht das verlorene Schaf, er sucht die verlorene Münze, und er wartet auf den jüngeren Sohn, der von ihm nichts mehr wissen will. Jesus geht es um ein Gottesbild, wie es ursprünglich in den Schriften des AT auch gemeint ist: Es geht Gott nicht um das Einhalten religiöser Gesetze, sondern es geht Gott um geglücktes Menschsein und um geglückte Gottesbeziehung.
Weil der Konflikt zwischen Jesus und seinen Gegnern so zentral ist, rutscht die Rahmengeschichte von Lk 15 im Gleichnis vom verlorenen Sohn sogar bis in die Erzählung hinein. Denn Jesus erzählt nicht nur vom verlorenen Sohn, der zum Vater zurückkehrt, sondern vor allem auch vom älteren, selbstgerechten Sohn, der nach eigenen Angaben Gott schon „so viele Jahre“ dient und „nie“ gegen den Willen Gottes gehandelt hat. (15,29.) Damit hält Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten einen Spiegel vor Augen. —
Im Gleichnis vom verlorenen Sohn – besser: „von den ungleichen Brüdern“, oder gar: „vom barmherzigen Vater“ – bleibt offen, ob der ältere, selbstgerechte Sohn zur Einsicht kommt oder aber in der unversöhnlichen Ablehnung seines eigenen Bruders und damit auch seines Vaters verharrt.
Im Leben Jesu ist leider nicht offen, ob er seine Gegner überzeugen kann: Seine Gegner bringen ihn um. Der Theologe Markus Arnold formuliert treffend: „Der eigentliche Grund, weshalb Jesus gekreuzigt wurde, war sein Gottesbild.“ —
Die Frage nach dem Gottesbild bleibt auch nach Jesu Tod offen. Der Gegensatz zwischen den beiden Gottesbildern, dem Gott des Gesetzes, der straft und der belohnt, und dem Gott des Lebens, der sich der Menschen erbarmt, durchzieht die ganze 2000jährige Geschichte des Christentums wie ein roter Faden – bis heute.
So etwa kämpft Paulus als bekehrter Pharisäer heftig gegen Judenchristen, die den Heidenchristen das jüdische Gesetz auferlegen wollen. Im Galaterbrief findet er deutliche Worte, zum Beispiel: „Durch Werke des Gesetzes wird niemand gerecht.“ (2,16.) Und: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden [d.h. am Kreuz gestorben] ist.“ (3,13.)
Augustinus kämpft gegen den Mönch Pelagius, weil Augustinus glaubt, dass uns die Erlösung von Gott geschenkt wird und durch auch noch so gute Taten nicht verdient werden kann. Luther bekämpft die billige Werkgerechtigkeit vieler seiner katholischen Zeitgenossen. Und Papst Franziskus hielt es sogar für notwendig, ein „Jahr der Barmherzigkeit“ auszurufen, um uns daran zu erinnern, worum es Jesus eigentlich geht.
Auch für uns persönlich stellt sich täglich die Frage, nach welchen Kriterien wir uns und unsere Mitmenschen beurteilen: nach Recht und Gesetz, oder aber gemäss der göttlichen Barmherzigkeit? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir wohl zugeben, dass dieser Kampf um die beiden Gottesbilder auch in unseren eigenen Herzen tobt. —
Der Schriftsteller Paul Coelho schreibt: „Gott gibt es zweimal. Als den Gott, den wir zu fürchten lernten, und den, der zu uns von Barmherzigkeit spricht.
Gott gibt es zweimal. Als den Gott, der unsere Schulden einfordert, und den Gott, der uns unsere Schulden erlässt. Als den Gott, der uns mit den Strafen der Hölle droht, und den Gott, der uns den besseren Weg weist.
Gott gibt es zweimal. Als einen Gott, der uns unter der Last unserer Sünden zusammenbrechen lässt, und denjenigen, der uns mit seiner Liebe befreit.“
Amen.