P. Daniel Emmenegger zum Bettag

18.09.2022

«Betet und thut Busse, so ruft uns Gott durch seine Propheten, unser Gott, unser Vater, der seinen eingeborenen und geliebten Sohn dahingegeben [hat] zur Vergebung für ein sündiges und undankbares Geschlecht. Und lauter und vernehmlicher dringt heute dieser Ruf zur Busse zu uns, da so viele Ereignisse uns an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern und unsere Gedanken hinziehen zu dem, der der Menschen Schicksale in seiner Hand hat.»

Diese Worte, liebe Schwestern und Brüder, erreichten uns nicht aus Rom. Sie sind auch nicht Teil einer Botschaft der Schweizer Bischofskonferenz zum heutigen eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. Nein, diese Worte sind Worte der Regierung in Bern vom 24. August … 1831. Es sind Worte, hinter denen ich als in der Schweiz lebender katholischer Christ im Jahr 2022 voll und ganz stehen kann – gerade auch angesichts der Ereignisse unserer Tage. Ja, ich würde mich freuen, wären es Worte der Regierung in Bern vom 24. August dieses Jahres; ich würde mich freuen, würde die Regierung in globo auch heute von «unserem Gott» als «unserem Vater» sprechen, «der seinen eingeborenen Sohn dahingegeben hat für uns und der der Menschen Schicksale in seiner Hand hat» – ich würde mich freuen, vorausgesetzt allerdings, es wären Worte echten, tiefen Glaubens eines jeden Regierungsmitglieds und nicht bloss Ausdruck des Mainstreams eines angeblich christlichen Schweizervolkes. Im Jahr 2022 ist ein solches Wort seitens der Regierung in Bern kaum zu erwarten. Nicht nur, weil das heutige Schweizervolk kein christliches Volk ist, sondern mehrere Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen und Glaubensrichtungen umfasst; diesbezüglich also divers ist und eine von diesem Volk gewählte Regierung diese Diversität mit der Zeit entsprechend abbildet; ein solches Wort ist heute seitens der Regierung auch deshalb nicht zu erwarten, weil Religion, Konfession, Weltanschauung und Glaube «Privatsache» seien – Privatsache auch der Regierungsmitglieder, die die Interessen des diversen Schweizervolkes zu vertreten haben und nicht die einer bestimmten Religion, Konfession, Weltanschauung oder Glaubensrichtung, so dass auch der Glaube der Regierenden hinter die Interessen des Volkes und des Staates zurücktreten muss. Man kann sich natürlich fragen, wie realistisch das ist bzw. wie weit eine solche Haltung konkret gelebt werden kann. Denn das, was ein Mensch glaubt und wie er glaubt; ob er betet und wie er betet – das drückt sich in seinem Leben aus und zwar leibhaft: In Gedanken, Worten, Gesten, Taten, die das Umfeld prägen – zum Guten oder zum Schlechten. So ganz «privat» ist Glaube also nicht! «Der Glaube ist dem Menschen angeboren», schrieb Jeremias Gotthelf 12 Jahre nach dem Wort aus Bern und fügte hinzu: «Scheint aber Gottes Sonne nicht hinein, so spuckt der Teufel darein».

Wie dem auch sei: In der Lesung hörten wir Worte des Apostels Paulus aus dem ersten Jahrhundert. Sie waren damals an Timotheus gerichtet. Heute, am Bettag 2022, richten sie sich an uns. Das heisst, so will ich annehmen: An katholische Christen, die inmitten des diversen Schweizervolkes leben. Die Worte des Apostels passen perfekt zum Bettag, wenn er uns in direktester Weise zu Bitten und Gebeten; zu Fürbitte und Danksagung auffordert und zwar für alle Menschen, nicht zuletzt für Regierende (1 Tim 2,1).

Wir dürfen aber nicht übersehen, dass diese Worte auch eine ungeheure Provokation sind. Denn der Grund, weshalb Paulus zu solchem Beten auffordert, das eben alle Menschen im Blick hat, liegt in der Erkenntnis einer Wahrheit, die alle Menschen betrifft und deshalb auch alle Menschen etwas angeht – unabhängig ihrer Religion, Konfession, Weltanschauung oder Glaubensrichtung. Und diese Wahrheit ist, dass es nicht diverse Götter gibt, «denn einer ist Gott» (1 Tim 2,5) – für alle Menschen, auch für die Regierenden. Und: Einer ist es, der dem Menschen die Tür zu diesem Gott öffnet: «Der Mensch Christus Jesus» (1 Tim 2,5). Das geht alle Menschen etwas an! Deshalb kann und darf der Christ nicht nur sich selbst im Blick haben, wenn er betet; deshalb kann und darf auch die Gemeinschaft derer, die sich zu Christus Jesus bekennen – also die Kirche – nicht nur auf sich selber schauen, sondern muss alle Menschen in den Blick nehmen. Auch dieser Aspekt dürfte wohl mitspielen, wenn Paulus sagt, er sei eingesetzt als Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit (1 Tim 2,7): Also nicht nur, um Nichtglaubende, die nicht zur Kirche gehören, gleichsam zur Taufe und damit in die Kirche hinein zu führen, sondern auch um deutlich zu machen – um sie zu «belehren» – dass die in Christus Jesus erkannte Wahrheit auch für sie, also Menschen ausserhalb der Kirche relevant ist – nicht zuletzt für Regierende und «alle, die Macht ausüben» (1 Tim 2,2).

Ein solcher Anspruch muss eine diverse Gesellschaft geradezu herausfordern und in ihr diverse Alarmglocken schellen lassen, insbesondere jene des religiösen Fundamentalismus und Fanatismus. Die Geschichte liefert dazu ja auch gute Gründe: Zu oft wurde und wird der Christenname missbraucht, um unangemessen Macht auf andere Menschen auszuüben. Das ist das pure Gegenteil eines «Verkünders und Apostels», wie er sich gerade an der Gestalt des Paulus manifestiert. Solch unschöne Geschichten können und dürfen uns aber nicht daran hindern, die uns umgebende diverse Gesellschaft mit unserem Zeugnis zu «belästigen». Auch deshalb, weil der Mensch wissen muss, dass er verantwortlich dafür ist, welches Licht (oder auch welche Finsternis) er in seinen angeborenen Glauben hineinscheinen lässt (wobei Finsternis freilich nicht scheint). Unser Zeugnis für die in Christus Jesus erkannte Wahrheit müssen wir dabei nicht marktschreierisch vor uns hertragen. Solches hindert eher daran, dass das Zeugnis in und durch uns leibhaft lebendig wird. Nein, wir müssen zuallererst unseren eigenen angeborenen Glauben öffnen «in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit» (1 Tim 2,2), damit Christus ihn ausfüllen kann und unser Denken, unsere Worte, unsere Gesten und Taten prägt. So wird unser Zeugnis leibhaft lebendig und prägt durch uns auch unser Umfeld. Es wird nicht «privat» bleiben.

Das wusste offensichtlich auch die Berner Regierung im Jahr 1831, wenn sie schrieb: «Pflanzet Gottesfurcht, jeder vorerst in seinem eigenen Herzen, dann in seinem Haus und dadurch unter dem ganzen Volk». Als katholischer Christ kann ich dazu auch im Jahr 2022 nur sagen: So sei es! Amen.