
P. Benedict Arpagaus zum 22. Sonntag im Jahreskreis
„Da beobachtete man ihn genau.“ – Wir Menschen haben Augen. Und diese Augen lieben es zu schauen, nachzusehen und zu beobachten. Das liegt in ihrer Natur. Wir kennen das. Und es ist schön, wenn wir mit unseren Augen die Schönheiten der Natur geniessen dürfen oder das Antlitz eines geliebten Menschen.
Ein besonderes Moment ist es, wenn wir in eine Versammlung kommen oder einen vollen Saal betreten, auch den Kirchenraum. Da spüren wir förmlich, wie uns Blicke treffen. Umgekehrt ist es nicht anders. Betritt jemand einen Raum, so geschieht es wie von selbst, dass unsere Augen kurz einen Blick zuwerfen – sollte eine besondere Ausstrahlung vorhanden sein, kann der Blick auch länger dauern. Auch das ist natürlich.
Allerdings gibt es eine unterschiedliche Qualität des Blickes und des Schauens. Wir Menschen können das normalerweise gut herausspüren, im Besonderen feinfühlige Personen. Es gibt die Augen-Blicke, eine Art des Schauens, in welchen wir uns sofort willkommen wissen, bei denen uns Liebe entgegenkommt, in denen Wertschätzung und Achtung wahrnehmbar sind, einfach Freude und Offenheit. Dann gibt es die gleichgültigen Blicke, ein kurzes Schauen und das war es schon, völlig wertfrei. Doch da sind auch die prüfenden Blicke, das bewertende und urteilende Schauen, die neidisch-eifersüchtigen Blicke, das argwöhnische und konkurrenzbehaftete Schauen – vielleicht getarnt mit einem aufgezogenen Lächeln, mit einer Maske des Wohlwollens.
„Da beobachtete man ihn genau.“ – Ich weiss nicht, wie es Euch geht, liebe Brüder und Schwestern im Glauben. Aber bei dieser Aussage im heutigen Evangelium spüre ich etwas Unangenehmes. In diesem „genauen beobachten“ einiger Gäste liegt ganz viel argwöhnische Prüfung und Missgunst. Die Schadenfreude wartet schon: Was sagt er? Welche Handlungen begeht er? Wie geht er um mit dem da? Er weiss doch, dass der… Wie verhält er sich ihr gegenüber? Weiss er eigentlich, was die…? Und überhaupt… Und schon ist das Urteil über Jesus gefällt. Einige der zum Mahl geladenen Gäste warten sehnlichst darauf, dass Jesus einen Fehler begeht, um ihn überführen zu können, um einen guten Grund zu haben, ihn schlechtreden zu dürfen. Jesus ist in deren Augen bereits erledigt. Jesus aber, der des Menschen Herz kennt, weiss, was diese Leute denken und beabsichtigen. Er steht über der Sache. Denn er ist eins mit seinem himmlischen Vater und somit im Frieden mit sich selbst.
Die Gäste bemerken wahrscheinlich nicht, dass Jesus auch sie beobachtet und ihr Verhalten bei Tisch, wie sie sich die vermeintlich besten und wichtigen Plätze aussuchen und besetzt halten. Jesu Beobachtung ist jedoch nicht verurteilend, sondern nachdenklich. Und er stellt die Gäste durch ein Gleichnis zur Rede. Seine Absicht ist es, sie zum Nachdenken anzuregen und sich ihres Verhaltens bewusst zu werden. Denn diesen Gästen entgeht etwas Wichtiges, sie merken nämlich nicht, dass mit ihrem Verhalten der Sinn ihres gemeinsamen Mahls verloren geht. Es ist einfach schade und traurig. Es ist doch Sabbat. Und am heutigen Tag steht Gott, der Schöpfer und Geber alles Guten im Mittelpunkt der Feier. Es geht darum, den Glauben und das Leben freudig miteinander zu feiern. Im Zentrum steht das Teilen des Lebens. Diese gemeinschaftliche Feier am Sabbat und das gemeinsame Teilen von Speis und Trank besagt, dass in ihrer Würde alle Menschen gleich sind und es im Himmel die Kategorie von „mehr Wert“ und „weniger Wert“ schlicht nicht gibt.
Wer ist mehr? Wer hat mehr? Wieso kann der das und ich nicht? Was glaubt der eigentlich, wer er ist? Was hat sie, was ich nicht habe? Und man wartet förmlich darauf, dass dem anderen etwas schiefgehen könnte, dass sie einen Fehler begeht und dann wenigstens ein wenig von ihrem Glanz einbüsst. Dahinter steckt eine grosse innere Armut, die fatale Folgen hat, wie wir es heute einmal mehr zu Gesicht bekommen: Konkurrenzdenken, Machtstreben, Angst, Streit, Krieg.
„Und sie beobachteten ihn genau.“ – Wenn wir nun diese Aussage anders betonen, nämlich „Und sie beobachteten ihn genau“, dann haben wir eine wichtige Korrektur vorgenommen und sind wieder zurück auf dem richtigen Weg. Ja, darum geht es und darum feiern wir am Sonntag, am Tag des Herrn gemeinsam unseren Glauben, den wir durch unser Lebensbeispiel in der neuen Woche bewusst bezeugen wollen. Wir sind eingeladen, IHN, JESUS CHRISTUS zu beobachten, zu betrachten, zu meditieren und dann seinem Beispiel zu folgen. Jesus Christus, der ja wohl allen berechtigten Grund hat, sich als Herr zu geben, weil er wahrhaftig und allein der HERR ist, der Sohn des lebendigen Gottes, ausgerechnet Jesus begegnet den Menschen auf Augenhöhe, richtet die Gebeugten auf und kniet selber hin, um seinen Jüngern die Füsse zu waschen. Das ist die Herrschaft Gottes, die in der einzigen wahren Macht begründet ist, in der Liebe. Und Liebe strebt stets zum Miteinander und Füreinander. Sie flüchtet das Gegen-, das Neben- oder das Übereinander.
Und wenn wir Jesus, ihn genau beobachten und aus ihm zu leben beginnen, verändert sich auch unsere Sichtweise auf andere Menschen. Wir beobachten dann nicht mehr den anderen oder die andere ganz genau, sondern wir sehen, wir schauen ihn und sie. Wir entwickeln in uns die Sichtweise Gottes, den Blick Jesu für die Menschen, für diese Welt.
Im Psalm 119, der die Beobachtung der Weisungen Gottes thematisiert, finden wir auch für uns das, worauf es wirklich ankommt, was es genau zu beobachten gilt. Im Vers 24 lesen wir: „Über deine Weisungen freue ich mich, denn sie sind meine Berater.“ Im Vers 32, der sich in der Benediktsregel wiederfindet: „Ich will laufen den Weg deiner Gebote, denn mein Herz machst du weit.“ Und im Vers 37: „Wende meine Augen davon ab, nach Nichtigem zu schauen, auf deinen Wegen belebe mich.“ Schliesslich im Vers 96: „Ich sah, dass alles Vollkommene Grenzen hat, doch deine Weisung ist von unendlicher Weite.“
„Und sie beobachteten ihn genau.“ – Und was oder wen beobachten wir genau?