
P. Mauritius Honegger zum 12. Sonntag im Jahreskreis
Liebe Mitchristen,
«Für wen halten mich die Leute?» – Es ist eine bemerkenswerte Frage, die Jesus seinen Jüngern da stellt. Finden Sie es nicht auch erstaunlich, dass Jesus sich dafür interessiert, was andere Menschen über ihn denken. Eher würden wir doch von ihm erwarten, dass er seine Sache einfach durchzieht, ohne auf die Meinung der anderen Rücksicht zu nehmen. Schliesslich versteht er seinen Auftrag, seine Mission ja als von Gott gegeben. Jesus ist gekommen, um den Willen seines himmlischen Vaters zu erfüllen. Was nützt es da, die Meinung der Leute einzuholen?
Und dennoch fragt Jesus seine Jünger: «Für wen halten mich die Leute?» – Mit dieser Frage eröffnet er ein Gespräch über seine Identität. Zuerst möchte er hören, was die Leute über ihn so sagen. Später dann erkundigt er sich direkt nach der Meinung der Jünger: «Ihr aber, für wen haltet ihr mich?»
Bei der Frage nach der Identität Jesu gibt es also mehrere Ebenen. Die Meinungen der Leute sind verschieden: Einige halten ihn für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere sagen: einer der alten Propheten ist auferstanden. Obwohl diese Aussagen nicht ganz ins Schwarze treffen, bleiben sie aber auch nicht einfach an der Oberfläche. Sondern sie lassen erahnen, dass bei Jesus noch etwas Tieferes da ist. Die Leute bringen Jesus mit dem Wirken der Propheten in Zusammenhang. Sie spüren in ihm eine Kraft, die irgendwie etwas mit Gott zu tun haben muss.
Das Wissen der Leute über die Identität Jesu kann nicht anders als beschränkt sein. Von den Jüngern aber erwarten wir eine bessere Kenntnis. «Ihr aber, für wen haltet ihr mich?»
Als Jesus die zwölf Apostel beruft, macht er das aus zwei Gründen, wie wir bei der genauen Lektüre des Markusevangeliums erfahren: «Jesus rief die zu sich, die er selbst wollte, und er setzte zwölf ein, damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende» (Mk 3,13-14).
Zwei Ziele verfolgt Jesus bei der Berufung der Apostel: damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende. Apostel bedeutet wörtlich ja «die Ausgesandten». Der zweite Grund liegt also in der Natur der Sache. Jesus beruft zwölf Männer, um sie zur Verkündigung seiner Frohen Botschaft auszusenden.
Aber die Verkündigung ist nicht der einzige Grund für ihre Berufung. Der erst genannte Grund wird oft überlesen, und zwar nicht nur von uns, sondern auch schon von zwei sehr frühen Rezipienten des Markusevangeliums: Denn schon Matthäus und Lukas haben diesen Satz nicht in ihre Evangelien übernommen: «Jesus setzte zwölf ein, damit sie mit ihm seien».
Die Jünger sollen mit Jesus sein, mit ihm Zeit verbringen, mit ihm Gespräche führen, mit ihm Reisen unternehmen, stürmische Schifffahrten erleben, ihm beim Predigen zuhören. Und warum wohl sollen sie das tun? Warum wohl will Jesus, dass diese zwölf Männer mit ihm sind? Weil eine oberflächliche Kenntnis seiner Identität nicht ausreicht. Weil es nicht genug ist, Jesus nur vom Hörensagen her zu kennen. Aus der persönlichen Erfahrung heraus kann Petrus schliesslich sagen: Du bist der Christus Gottes, der Gesalbte, der Messias.
Was können wir mitnehmen von der Diskussion um die Identität Jesu aus dem heutigen Evangelium? Drei Punkte scheinen mir wichtig.
Erstens: Menschliche Identität hat verschiedene Ebenen. Es gibt Teile davon, die öffentlich bekannt sind, z.B. unsere Adresse, unsere Berufsausbildung, unsere Mitgliedschaft in Vereinen. Es gibt aber auch Aspekte unserer Identität, die intimer sind, die wir vielleicht nicht mit allen teilen wollen. Die Herausforderung besteht darin, dass die verschiedenen Ebenen unserer Identität nicht auseinanderfallen, dass ich mich gegen aussen nicht als jemanden ausgebe, der ich eigentlich gar nicht bin.
Bei Jesus spürten die Menschen, dass in ihm der Geist Gottes wirkt. Darum haben sie ihn mit den Propheten verglichen und sie lagen nicht ganz falsch. Auch bei uns sollte es so sein: Wenn wir Menschen begegnen, müssen wir keine Maske aufsetzen, sondern wir dürfen authentisch sein. So können die Menschen erahnen, wer wir sind, auch wenn sie nicht jedes Detail unserer Biografie kennen.
Zweitens: Um einen Menschen wirklich kennen zu lernen, braucht es Zeit, gemeinsam verbrachte Zeit. Jesus wollte, dass die zwölf Jünger, die er ausgewählt hat, mit ihm seien. Die Identität eines Menschen erfassen wir am tiefsten, wenn wir Zeit mit ihm verbringen. Und das ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen, als Jüngerinnen und Jünger Jesu: Wir müssen mit Jesus Zeit verbringen: im Gebet, beim Hören auf seine Worte, beim Feiern der Eucharistie, im stillen Verweilen vor dem Tabernakel.
Und für den dritten und letzten Punkt müssen wir im Evangelium noch ein bisschen weiter lesen als der heutige Abschnitt. Heute haben wir Aussagen über die Identität Jesu auf zwei Ebenen gehört: die Ebene der Leute, die trotz ihres nur oberflächlichen Wissens eine richtige Ahnung haben, und die Ebene des Jüngerkreises, von dem wir eine bessere Kenntnis erwarten.
Nach der heutigen Episode folgt im Erzählverlauf des Evangeliums die Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor. Und hier lernen wir noch eine dritte, ja die wesentliche Ebene seiner Identität kennen. Als Jesus auf dem Berg ist, kommt eine Wolke und überschattet ihn. Dann erschallt aus der Wolke die Stimme Gottes und sagt: «Du bist mein geliebter Sohn».
Letztlich ist Identität nicht, was andere Leute sagen. Letztlich ist Identität das, was uns von Gott geschenkt ist: Du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter. Das ist die innerste, die tiefste Ebene jeder christlichen Identität. Amen.