P. Theo Flury am Vierten Sonntag in der Osterzeit

08.05.2022

Liebe Brüder und Schwestern

Um den soeben verkündigten Abschnitt aus dem Johannesevangelium besser zu verstehen, müssen wir noch einige Verse voranstellen und einige nachfolgen lassen. Dieser so entstandene Rahmen besteht in einem Gespräch zwischen Jesus und den Juden, die von ihm verlangen, ihnen endlich zu sagen, ob er denn wirklich der Messias sei. Jesus verweist auf seine Werke, die von ihm ausreichend Zeugnis ablegen würden. Die Juden würden aber nicht glauben, weil sie nicht zu den Schafen gehörten, die ihm der Vater, mit dem er eins sei, gegeben hätte. Daraufhin wollen sie ihn steinigen. Jesus fragt sie, für welches seiner Werke sie ihn den steinigen wollen. Darauf folgt die Antwort: «Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott.» Jesus ist der Sohn Gottes.

Ohne diesen düsteren Rahmen bliebe nur ein idyllisches Hirtenbild übrig, so wie wir es vielleicht einmal in einer Kinderbibel aus dem letzten Jahrhundert gesehen haben: ein Jesus mit blonden langen Haaren, leuchtend blauen Augen und einem milden Lächeln inmitten einiger schneeweisser gelockter Schafe auf einer saftigen grünen Wiese, die verklärt blökend zu ihrem Hirten aufblicken; im Hintergrund, etwas erhöht, ein alter Mann mit langem Bart und einem Heiligenschein – der Vater, der Jesus segnet.

Wie geht ein solch verkürztes Bild zusammen mit der Realität der Welt? Mit einer Welt mit viel Gewalt und Bosheit, Verblendung, Unsinn und Kleinlichkeiten? Worin besteht da die Verbindung zwischen Glauben und Leben? Der naive Glaube, der durch das beschriebene Bild vermittelt wird, scheitert an der Wirklichkeit. Das führt dann unweigerlich zu Feststellungen wie: “Nach Auschwitz ist der Glaube an Gott unmöglich geworden”. Man könnte hingegen auch sagen: “Nach Auschwitz ist der Glaube an den Menschen unmöglich geworden.” Damit wird zwar einerseits Gott entlastet, andererseits aber der Mensch belastet. Ist das jedoch die vollständige Antwort auf die Frage nach dem Bösen, nach Leid und Tod, die uns gerade in dieser Zeit wieder besonders beschäftigt?

Die Bibel findet auf den ersten Seiten des Alten Testaments einen anderen Zugang zum Problem, der in folgende bildhafte Geschichte verpackt ist: Adam und Eva lassen sich von der Schlange verführen, die Frucht eines ihnen von Gott vorenthaltenen Baumes zu essen. Neben Gott und dem Menschen gibt es da also eine dritte Figur, die Schlange, die offenbar ein Interesse hat, das Schöpfungswerk Gottes, besonders den Menschen, zu zerstören, ihn aus der grundlegenden Beziehung zu Gott, seinem Ursprung und Ziel, abzudrängen und hinausfallen zu lassen. Die Anfälligkeit für das Böse, das Leiden und der Tod sind Folgen dieser sogenannten Ursünde.

Gott könnte nun doch in die Finger schnippen und sagen: Hokuspokus – alles ist wieder gut! Das tut er offensichtlich nicht, denn er hat alle geistbegabten Geschöpfe, die Engel und die Menschen, frei geschaffen, weil er zu ihnen eine Beziehung aufbauen will. Beziehung, Freundschaft und Liebe sind allerdings nur möglich, wenn sie aus Freiheit geschehen. Würde Gott diese Freiheit nun umgehen, würde er sein Projekt der Beziehung, der Liebe und der Freundschaft, revidieren und das Gute auferlegen als Zwang.

Die scheinbare Hirtenidylle des heutigen Sonntagsevangeliums ist ein Edelstein, der in einem ehernen Ring gefasst und gehalten ist. Dieser umgebende Ring ist der Unglaube aus Verblendung und die Bereitschaft zu Gewaltanwendung aus religiösen Motiven, die schliesslich im äusserst brutalen Kreuzesgeschehen ihren Höhepunkt finden wird – gerade da brodelt ein giftiges Gemisch aus menschlicher Freiheit, verweigerter Gnade und Verführung durch das Böse.

Hier nun treffen die mit Leichen übersäten Feldern der Kriegsgebiete weltweit auf Resonanz, auch die wahnsinnige Zerstörungswut, in der das Leben des Einzelnen, das Glück der Familien und der Wert der Lebensprojekte keine Rolle mehr spielen und mit Füssen getreten werden.

Das Kreuz ist, nach den Zeugnissen der Heiligen Schrift, der Kirchenväter und der gottesdienstlichen Texte der Kirche, der Ort, wo die in der langen Menschheitsgeschichte angeschwollene Eiterbeule der Bosheit platzt und der Versucher von Anbeginn übertölpelt wird: statt das Projekt Gottes endgültig zu zerstören, wird er, umgekehrt, in der Auferstehung besiegt: denn die Möglichkeit dieser Tat Gottes hatte er nicht bedacht. Und wer mit dem Auferstandenen verbunden ist, der uns heute sagt, dass er eins sei mit dem Vater, Gott von Gott und Licht von Licht, wird durch ihn ebenfalls Anteil an diesem neuen Leben erhalten.

Solange die Menschheit existiert, werden allerdings die Wunden der Ursünde sich weiter auswirken. Aber sie sind seit Karfreitag und Ostern nicht mehr der Schlusspunkt einer unüberwindlichen Katastrophe, sondern auf Hoffnung hin vorläufig: Gott will das Heil gerade auch hier wirken, und sein Leben reicht weit über das Diesseitige hinaus. Dass diese Hoffnung nicht einfach ein billiger Trost ist, dafür legen unzählige Märtyrer Zeugnis ab. Sie hat unzählige Menschenleben, Gemeinschaften, Orte und Zeiten geprägt und zum Blühen gebracht!

Heute feiert die Kirche den Weltgebetstag für kirchliche Berufe, alle Getauften sind berufen, unter der Führung des Heiligen Geistes das Antlitz der Erde zu erneuern. Das können wir tun, weil wir hinein gerufen sind in eine Glaubensgemeinschaft, die von Hoffnung geprägt ist. Diese beschränkt sich nicht auf das Diesseitige, schliesst es aber durchaus mit ein. Ein Glaube allerdings, der nicht durch das Kreuz und die Auferstehung – in ihrer ganzen Dramatik und Reichweite – mit der oft brutalen Wirklichkeit des Lebens verbunden wäre, würde einem Öltropfen gleichen, der unverbunden auf dem Wasser schwimmt. Das Wagnis eines jenseits und diesseits verorteten und tapferen Glaubens hingegen kann nur geschehen im Vertrauen auf das Wort Jesu, das uns heute verkündet worden ist: Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreissen. Amen.