P. Daniel Emmenegger am Karfreitag

15.04.2022

«Wir hatten gehofft, dass Jesus der sei, der Israel erlösen würde» (Lk 24,21), der das fremde Joch der römischen Herrschaft von uns nimmt, Korruption aus der Welt schafft, Gewalt beendet, Leben und Frieden bringt – und nun das: Unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen (Lk 24,20)! Jesus ist tot!

So lautet das traurige Fazit der zwei Jünger, die sich Tage nach der Hinrichtung Jesu auf den Weg nach Emmaus machten.

Kommt uns das nicht bekannt vor? Wir hatten gehofft, dass Territorialkriege zumindest in Europa endgültig der Vergangenheit angehören – und nun das: Siehe Ukraine. Wir hatten gehofft, Seuchen und Krankheiten im Griff zu haben – und nun das: Siehe Corona. Wir hatten gehofft, die Kirche sei ein Ort respekt- und liebevollen Miteinanders – und siehe, wie sie streiten!

Das Kreuz Jesu Christi desillusioniert! Es beraubt uns der Illusion, in einer heilen Welt zu leben und zeigt uns auf brutalste Weise: Unsere Welt ist eine zutiefst korrupte Welt – «korrupt» heisst: verdorben, verwüstet, verfälscht. Zugleich beraubt uns das Kreuz Jesu der Illusion, wir Menschen könnten die Welt von ihrer Korruption befreien, ja sie erlösen. Die Welt, die wir kennen, die Welt unserer Erfahrung wird, solange sie dauert, nie eine Welt sein ohne Krieg und Gewalt, eine Welt ohne Krankheit und Seuchen, eine Welt ohne Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch – kurz: eine Welt ohne Korruption im Kleinen wie im Grossen.

Wir können sie davon nicht nur nicht erlösen, sondern werden selber mit dem Schaden, den Verwundungen und Verletzungen, ja physischen und psychischen Verwüstungen, die aus dieser Korruption hervorgehen, nicht fertig. Wir können das nicht tragen. Und wir können daran nichts ändern. Denn Jesu Kreuz zeigt uns zugleich, dass die Korruption im Innern des Menschen selbst schlummert, wovon niemand ausgenommen ist – auch wir hier drin nicht. «Von innen, aus dem Herzen des Menschen kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft» (Mk 7,22). Das sage nicht ich, sondern Jesus, der Herr sagt das – und man kann sich fragen, ob es mit ein Grund war, weshalb man ihn ans Kreuz schlug. Solches hört man schliesslich nicht gern. Man möchte lieber erbaut werden als desillusioniert – gerade auch in der Feier eines Gottesdienstes in einer Zeit, in der die Menschen es sonst schon schwer genug haben. Nur: Erbauung ohne Wahrheit ist Illusion.

Wie ist das nun aber? Bleibt es bei der Desillusionierung? Bleibt es bei der Erkenntnis, dass die Welt nun mal korrupt ist und in ihr zuerst der Mensch? Ist dies – ist das Kreuz das Ende? Das wäre wohl der Fall, wenn man nicht mit dem Soldaten sagen könnte: «Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn!» Wäre Jesus nur ein Mensch, dann könnte auf die Desillusionierung bezüglich des Zustands der Welt und in ihr des Menschen wohl nur mit Verzweiflung oder Zynismus geantwortet werden. Und hier dürfen wir uns dann nichts vormachen: Verzweiflung und Zynismus angesichts des Zustands der Welt und des Menschen, den Jesu Kreuz offenbart, muss in dieser Welt keineswegs verzweifelt und zynisch aussehen. Ganz im Gegenteil können sich Verzweiflung und Zynismus höchst produktiv und kreativ zeigen – und unter dem Schein des Guten: Zum Beispiel in einem politischen Engagement für eine gerechtere und friedlichere Welt; in einer engagierten wissenschaftlichen Forschungstätigkeit zur Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten; oder in einem Kampf gegen Machtmissbrauch in Politik, Wirtschaft, Kirche. Auch Getaufte können verzweifelt und zynisch sein! Dies erst lässt uns vielleicht erahnen, wie tief die Korruption dieser Welt und zuerst des Menschen reicht und wie subtil sie ist.

Dennoch besteht weder Grund zur Verzweiflung noch zu Zynismus, denn: «Dieser Mensch ist Gottes Sohn». Und das heisst, gerade weil er am Kreuz hängt: Gott wendet sich nicht in ungöttlicher erhabener Gleichgültigkeit von der Korruption der Welt und des Menschen ab. Gott lässt es nicht einfach dabei bewenden; in keinster Weise arrangiert er sich mit der Korruption – mit dem Verderben, der Verwüstung und der Verfälschung der Welt und des Menschen. Denn die Welt und der Mensch – wir! – sind Gegenstand seiner Liebe. Das ist unendlich mehr als eine desinteressierte, unbeteiligte Weise, sich mit unserem Wohlergehen zu befassen. C. S. Lewis nannte es eine «Bürde von Herrlichkeit, die nicht nur über das hinausgeht, was wir verdienen, sondern auch über das, wonach wir, ausser in seltenen Augenblicken der Gnade, verlangen.» Diese Liebe Gottes verzeiht, sie ist eine verzeihende Liebe – und nimmt gerade so der Korruption der Welt und des Menschen jegliche Macht. Das ist etwas anderes als sie einfach aus der Welt zu schaffen, was er offensichtlich nicht getan hat. Diese verzeihende Liebe, diese «Bürde von Herrlichkeit» ist die einzige Kraft, die mit Krieg und Gewalt, Seuchen und Krankheiten, Machtmissbrauch jeglicher Art und all den Folgen daraus wirklich fertig wird. Wenn sich politisches Engagement für eine gerechtere und friedlichere Welt; eine engagierte Forschungstätigkeit zur Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten oder ein Kampf gegen Machtmissbrauch in Politik, Wirtschaft, Kirche aus dieser verzeihenden Liebe nährt – dann dient all dies wirklich dem Leben.

Und zwar über den Tod hinaus – denn die Fortsetzung folgt: Diesen Menschen hat Gott von den Toten auferweckt. Amen, ja Amen.