
Predigt am Pfingstmontag 2021
Predigt von P. Cyrill Bürgi am Pfingstmontag
Lesungen: Eph 1,3a.4a.13–19a; Lk 10,21–24
Ein Evangelium ist kein Geschichtsprotokoll, das genau wiedergibt, was exakt geschehen ist. Ein Evangelium will den Lesern und Hörern eine Botschaft weitergeben, ein Zeugnis zugeschnitten für die Zuhörer. Es geht nicht so sehr um den historischen Jesus oder die Jünger zu seiner Lebzeiten. Die Seligpreisung gilt den Adressaten des Lukasevangeliums um das Jahr 80. Das sind also etwa 50 Jahre nach dem Tod Jesu. Die wenigsten dieser Christen haben wahrscheinlich Jesus gesehen und doch werden sie seliggepriesen im Sinne von: «Selig, sind jene, die nicht sehen und doch glauben». Der Glaube ermöglicht ihnen, Jesus zu sehen, ihn zu erkennen und ihm zu folgen. Die Adressaten des Lukas sind jene Unmündigen, die Jesus zu sehen vermögen, gerade weil sie nicht nach der Art der Weisen und Klugen nach wissenschaftlichen Beweisen und greifbaren Fakten fragen. Sie vermögen dahinter zu sehen, was dem physischen Auge verborgen bleibt. Die Wirklichkeit dahinter erschliesst sich ihnen, weil sie nicht beim Äusseren stehen bleiben.
Trotz dieser schönen Erklärung bleibt auch bei uns dieser Wunsch hängen: «Wir möchten Jesus sehen?» Es besteht vielleicht gar ein gewisser Neid gegenüber den Menschen in Jerusalem vor 2000 Jahren. Jedenfalls zählen wir uns nicht zu den Unmündigen, die einfachhin mit naivem Glauben, Jesus zu sehen vermögen.
Ungefähr 30 Jahre vor der Entstehung des Lukasevangeliums schreibt Paulus an die Korinther: «Schaut euch doch selbst an, liebe Brüder und Schwestern! Sind unter euch, die Gott berufen hat, wirklich viele, die man als gebildet und einflussreich bezeichnen könnte oder die aus einer vornehmen Familie stammen» (1 Kor 1,26)? Paulus weisst die Gemeinde von Korinth genau darauf hin, dass sie vor der Welt nicht als die Klugen und Weisen gelten. Und darin nimmt er das Lukasevangelium vorweg, weil sie als Unmündige das Verborgene sehen. Er schreibt: «Gott hat sich die aus menschlicher Sicht Törichten ausgesucht, um so die Klugen zu beschämen. Gott nahm sich der Schwachen dieser Welt an, um die Starken zu demütigen» (1 Kor 1,27). Von der Sache her geht es hier um dasselbe. Äusserlich gesehen besteht die Gemeinde aus den Kleinen, jenen, die nichts zu sagen haben, ja vielleicht gar aus dem Abschaum der Gesellschaft. Diese Menschen aber glauben. Sie vermögen Jesus zu sehen.
Das Evangelium will auch uns heute ansprechen. Die Seligpreisungen gelten auch uns. Vielleicht fühlen wir uns aber nicht angesprochen, weil wir Jesus ja nicht sehen. Dann frage ich gerne zurück. Sind wir etwa nicht hier wegen Jesus? Glauben wir etwa nicht an ihn? Wohl mag unser Glaube wanken und schwanken und sich nach Fakten und Greifbarem ausstrecken, und doch halten wir ihm bis heute die Treue. Die Schwachheit des Glaubens mag für uns selber oder auch für alle anderen offensichtlich sein. Wir alle schauen manchmal wegen unserer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche ganz blöd aus der Wäsche. Ja, wir zeigen eine schwache Figur in den Augen der Welt.
In den Augen des Mainstreams sind wir nicht die Klugen und Gescheiten, die Gott beweisen und gute Taten vorweisen können. Wir haben als Kirche quasi nichts mehr zu sagen in dieser Gesellschaft. Ja, nicht einmal unser Leben zeugt vom Feuer der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung, an die wir uns halten. (Kirche in China; in Verfolgung und Uneinigkeit)
Trotz all dem können wir die Wirkungen unseres Glaubens nicht leugnen. Für uns sind sie offensichtlich. Wir vermögen zu sehen, was Jesus in uns und durch uns wirkt.
Vielleicht wird gerade an uns wahr, was Paulus schreibt: «Gott hat das Schwache erwählt, um das Starke zuschanden zu machen (1 Kor 1,27), «denn die Gnade erweist ihre Kraft in der Schwachheit» (2 Kor 12,9).
Am heutigen Gedenktag «Maria, Mutter der Kirche» wollen wir auf Marias Beispiel schauen. Sie wird uns präsentiert als demütige Magd, als eine dieser kleinen Unmündigen, die Jesus zu sehen vermögen. Als sie mit Jesus schwanger war und ihn noch nicht in den Händen hielt, also sich nur auf das Wort des Engels abstützten konnte, da hat sie aus lauter Freude ein Lied gesungen: das Magnificat. «Meine Seele preist die Grösse des Herrn. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut» (Lk 1,46.48). Im Lateinischen heisst es: «quia respexit humilitatem meam». Das lateinische «respexit» und das deutsche «respektieren» sind sprachlich miteinander verwandt. Man könnte also auch übersetzten: «denn Gott hat meine Niedrigkeit, meine Schwachheit respektiert.» Gott hat nicht nur Marias Niedrigkeit respektiert, sondern durch sie gewirkt.
Gott respektiert auch unsere Schwachheiten, ja er will durch sie wirken. Dazu zählen nicht nur unsere Unvollkommenheiten, unsere Charakterschwächen, der Jähzorn, die Depressionen, die Minderwertigkeitskomplexe, die Krankheiten und inneren Verletzungen. Gott respektiert unsere ganze Geschichte, unsere Geschichten, an denen wir schon lange knabbern und die wir zu überwinden suchen. Es sind jene Schwächen, unter denen wir selber leiden. Gott respektiert genau diesen Schwächen und übergeht sie nicht. Er überfordert uns nicht, sondern will uns helfen, gerade durch sie Jesus zu sehen.
Vielleicht sind gerade sie der Teil des Unmündigen in mir, dem das Verborgene offenbart wird und der mir hilft, Jesus zu sehen. Vielleicht müssen wir mit Jesus lernen zu beten: «Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor meiner Selbstsicherheit und meinem Besserwissen verborgen und es meinen minderen Komplexen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen.»
Noch ein letzter Gedanke des knapp 15jährigen Heiligen, Carlo Acutis, der 2006 gestorben ist. «Wir brauchen nicht auf die Jünger neidisch zu sein, weil sie Jesus gesehen haben. Wir haben mehr Glück als die Menschen, die vor 2000 Jahren mit Jesus lebten: Um ihm zu begegnen, müssen wir nur in die Kirche eintreten. Jerusalem liegt neben unserem Zuhause»